Einleitung
Die Entführung, die vor vier Jahrzehnten die junge Emanuela Orlandi, eine Bürgerin des Vatikans, zum Opfer machte, fesselte nicht nur die Stadt Rom, sondern die gesamte Welt in einem Sog aus Faszination und Rätseln. Doch warum sollte eine Reportage über eine einzelne Entführung von solch enormer Bedeutung sein? Die Antwort liegt in der unbestreitbaren Tatsache, dass der Fall Emanuela Orlandi weit über das Ausmaß eines gewöhnlichen Verbrechens hinausgeht. Er deckt eine düstere und verbrecherische Realität auf, die sich im Herzen des Vatikans abspielt und gibt uns einen erschütternden Einblick in die Schattenseiten des einzigen Gottesstaates auf Erden.
Diese Geschichte ist ein Spiegel, der uns mit schockierender Klarheit vor Augen führt, dass selbst die scheinbar heiligsten Institutionen nicht vor moralischer Verdorbenheit und Verbrechen gefeit sind. Sie offenbart die verworrenen Intrigen, die hinter den Mauern des Vatikans lauern, und entlarvt die Abgründe der Macht und des Missbrauchs. Die Geschichte von Emanuela Orlandi wird so zu einem Symbol für all jene, die sich der Wahrheit und Gerechtigkeit verschrieben haben und die nicht bereit sind, vor den dunklen Schatten der Korruption und Vertuschung die Augen zu verschließen. Diese Reportage führt uns auf eine unvergleichliche Reise, bei der wir nicht nur den mysteriösen Fall Emanuela Orlandi erkunden, sondern auch unsere eigenen Überzeugungen und Vorstellungen infrage stellen.
Im Jahr 2020 gab es weltweit etwa 1,345 Milliarden katholische Gläubige, was 17,7 % der Weltbevölkerung entspricht. Der Vatikan betreibt weltweit über 221.700 katholische Kirchen, beschäftigt ca. 414.000 Priester, ca. 36.000 Klöster, 73.000 Schulen (von der Grundschule bis zur Universität), 1000 Bibliotheken und 5.500 Krankenhäuser. Der Vatikan, als Zentrum der katholischen Kirche, hat aufgrund seiner Größe, Geschichte und seiner weltweiten Anhängerschaft einen überaus großen Einfluss auf unsere Gesellschaft, Wirtschaft, Bildungssysteme und ist ein gemeinhin völlig unterschätzter politischer Akteur. Darüber hinaus erstreckt sich sein Einfluss auch auf die internationale Diplomatie, die Menschenrechtsfragen, den Umweltschutz und die Medienlandschaft. Der Vatikan beeinflusst auch die ethischen und moralischen Diskurse in verschiedenen Bereichen wie Bioethik, Sexualität, Familienplanung und medizinische Forschung.
Ob wir es erkennen oder leugnen, ob wir es zugeben oder nicht: Das Welt- und Gottesbild, das uns die katholische Kirche in den letzten 2.000 Jahren aufgezwungen hat, hat sich wie ein Krebsgeschwür in unsere kulturelle und geistige DNA eingeschlichen. Das höchst fragwürdige Fundament, auf dem die Säulen unserer vermeintlich modernen Zivilisation ruhen, ist weitgehend von den Lehren, Dogmen und Traditionen der katholischen Kirche geprägt.
Wir sind von einem Erbe gezeichnet, das seit Jahrhunderten in unser Denken, unsere Werte und unsere Entscheidungen eingedrungen ist. Die einflussreiche Institution der katholischen Kirche hat sich tief in unsere Gesellschaft eingegraben und allen Aspekten des Lebens ihren Stempel aufgedrückt - von der Politik über die Bildung, die Kunst, die Medizin, bis zur Ethik. Aber wir sollten uns nicht scheuen, diese Einflüsse kritisch zu hinterfragen und den Mut haben, die Aspekte zu beleuchten, die zu Ungerechtigkeit, Intoleranz und Unterdrückung geführt haben.
Es ist an der Zeit, diesen Sumpf von Lügen und Verbrechen ein für alle Mal zu entlarven, die Macht der Kirche zu brechen und uns von ihrer jahrtausendealten Herrschaft zu befreien. Es ist an der Zeit, den Mut aufzubringen, die dunklen Kapitel der Geschichte anzusprechen und die Wunden zu heilen, die durch jahrhundertelange Unterdrückung und Täuschung verursacht wurden. Wir müssen unsere Stimmen erheben, um Gerechtigkeit für all diejenigen zu fordern, die unter dem Gewicht dieser Herrschaft gelitten haben.
Diese Reportage über die Entführung von Emanuela Orlandi soll als Anstoß für einen breiten Diskurs über die Rolle der katholischen Kirche, des Vatikans und des Papstes in unserer Gesellschaft dienen. Sie ruft dazu auf, die Grundlagen unserer kulturellen und spirituellen Erbschaft zu überdenken und in Frage zu stellen. Es geht darum, aus dem Schatten der Knechtschaft herauszutreten und uns von den Fesseln der Lüge, der Ungerechtigkeit und der Angst zu befreien, um in eine neue Ära der spirituellen Suche und des Glaubens einzutreten.
Aufbau der Reportage
Die Literatur- und Webrecherche folgt dem chronologischen Fluss der Ereignisse, verlässt jedoch immer wieder den linearen Tunnelstrom und erkundet in den Seitenarmen des Labyrinths der Macht die Verbindungen zu beteiligten Personen und parallelen oder historischen Ereignissen. Dieses Hintergrundwissen fließt fortlaufend in den Hauptstrom ein und ermöglicht dem Leser ein umfassendes Verständnis der Geschehnisse. Die vielen Bilder der wichtigsten Akteure tragen dazu bei, das Verständnis der komplexen Zusammenhänge zu erleichtern.
Die über 60-seitige Reportage nimmt uns mit auf eine erschütternde Reise, die uns tief in die Abgründe dieses ungelösten Verbrechens führt. Während wir uns Zeile um Zeile vorarbeiten, werden die Umrisse der Schattenmänner immer deutlicher, bis wir am Ende vor einer Blaupause des Verbrechens stehen. Die Argumentation basiert auf logischen Schlussfolgerungen, die im Verlauf der Reportage zusammengetragen wurden. Der deduktive Ansatz analysiert die Fakten und Schlüsselaspekte des Verbrechens und grenzt den Täterkreis schließlich auf ein Minimum ein.
Dabei wird deutlich, dass das Verbrechen bis heute ungelöst geblieben ist, weil eine Aufklärung bewusst verhindert wurde. Eine Tatsache, die uns erschaudern lässt und Fragen nach der Integrität des Vatikans, der Ermittlungsbehörden und deren finsteren Verstrickungen aufwirft. Uns wird bewusst, dass dieses abscheuliche Verbrechen selbst lediglich die Spitze des Eisbergs darstellt und auf ein viel umfassenderes Problem hinweist.
Weltpolitische Lage 1983
Der kalte Krieg zwischen den beiden Supermächten, den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion, erreichte einen kritischen Punkt. Im März 1983 verkündete der US-Präsident Ronald Reagan seine Vision einer umfassenden Raketenabwehrstrategie, die als "Strategic Defense Initiative" (SDI) bekannt wurde. Dieses Raumverteidigungsprogramm, das auch als "Star Wars" bezeichnet wurde, führte zu einer dramatischen Verschlechterung der Beziehungen zwischen den beiden Supermächten und brachte die Welt an den Rand eines potenziellen atomaren Weltkrieges.
In Italien herrschte politische Instabilität. Das Jahr begann mit einer Reihe von Skandalen und politischen Krisen, die das Land erschütterten. Der größte dieser Skandale war der sogenannte "Mani pulite" (Saubere Hände) Skandal, der das politische Establishment Italiens in seinen Grundfesten erschütterte. Die Untersuchungen enthüllten ein weitverzweigtes Netzwerk von illegalen Absprachen und weit verbreitete Korruption bei öffentlichen Aufträgen. Die Auswirkungen des Skandals waren verheerend. Zahlreiche Politiker wurden verhaftet, darunter auch hochrangige Mitglieder der beiden größten Parteien, der Democrazia Cristiana (Christdemokratische Partei) und der Partito Socialista Italiano (Sozialistische Partei).
Die Rote Brigaden verübten unzählige Anschläge, um ihre politischen Ziele zu erreichen und überzogen das Land mit Angst und Schrecken. Eine besonders schockierende Tat war die Entführung und der Mord an Aldo Moro, dem früheren Ministerpräsidenten Italiens. Moro wurde entführt und nach einer 55-tägigen Gefangenschaft umgebracht.
Gleichzeitig war die Mafia, insbesondere die Cosa Nostra, äußerst mächtig und tief in die Unterwelt verstrickt. Sie kontrollierte illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, Erpressung, Schutzgelderpressung und Korruption. Die Mafia übte beträchtlichen Einfluss auf verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens aus, einschließlich der Politik, der Wirtschaft und des Justizwesens. Gewalttätige Zusammenstöße mit rivalisierenden Clans führten zu zahlreichen Todesopfern und einem Klima der Angst.
Zur gleichen Zeit erschütterte der Zusammenbruch der Banco Ambrosiano, einer der größten Banken Italiens, das Land. Der Skandal deckte illegale Aktivitäten wie Geldwäsche, Korruption und Verbindungen zur Mafia auf. Besonders brisant: die Bank war eng mit dem Vatikan verbunden.
Wie zahlreiche Berichte belegen, spielte der Vatikan während des Kalten Krieges eine undurchsichtige und äußerst fragwürdige Rolle in der Geheimdiplomatie. Obwohl die katholische Kirche grundsätzlich eine neutrale Position einnehmen sollte, verfolgte der Vatikan eine eindimensionale antikommunistische Agenda und unterstützte dabei bedenkenlos autoritäre Regime und Diktatoren, solange diese sich gegen den Kommunismus wandten. Diese Haltung war nicht nur moralisch verwerflich, sondern zeugte auch von einem Mangel an Konsistenz in Bezug auf die Verteidigung von Menschenrechten und Demokratie.
Hinter verschlossenen Türen fanden geheime Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen dem Vatikan und den USA statt, bei denen die Interessen der Bevölkerung nur allzu oft zum Spielball machtpolitischer Interessen wurden. Der Vatikan wurde zu einem Hort der verborgenen Macht, in dem Einfluss, Intrigen und politische Allianzen auf höchstem Niveau geschmiedet wurden. Die Entscheidungen, die dort getroffen wurden, beeinflussten nicht nur das Leben der Gläubigen, sondern auch das Schicksal ganzer Länder und Kontinente.
Heute, 40 Jahre später, wird der Fall Emanuela Orlandi zum ersten Mal vom Vatikan untersucht. Währenddessen erschüttert erneut das Zerbrechen der Banken die Finanzwelt. Gleichzeitig befindet sich die Welt erneut an der Schwelle eines Dritten Weltkriegs, und wie schon damals sind die Vereinigten Staaten und Russland die maßgeblichen Akteure in diesem gefährlichen Schauspiel. Es ist beinahe surreal, wie sich die Geschichte zu wiederholen scheint und alte Geister ihre düsteren Schatten auf unsere gegenwärtige Zeit werfen.
Quellen
Die Bücher, aus denen die Quellen stammen, sind sorgfältig angegeben. Die Quellen aus dem Internet stammen hauptsächlich aus dem Archiv der renommierten Anwaltskanzlei von Laura Sgrò, einer engagierten Anwältin der Familie Orlandi. Es wurde bewusst darauf verzichtet, einzelne Quellen anzugeben, da interessierte Leser ausreichend Informationen erhalten, um selbst weiter zu recherchieren. Ich ermutige meine geschätzten Leser dazu, nicht bloß passiv zu konsumieren, sondern aktiv und eigenverantwortlich nach Wissen zu streben und ihre geistigen Horizonte mutig zu erweitern. In einer Ära, die von einer überwältigenden Flut an Informationen und Meinungen gekennzeichnet ist, erlangt unsere Fähigkeit zur kritischen Analyse und zum selbstständigen Denken eine beispiellose Bedeutung.
Emanuela Orlandi – Anatomie einer Entführung
Orlandi erblickte am 14. Januar 1968 das Licht der Welt. Sie wurde wie ihr Bruder Pietro und ihre drei Schwestern Natalina, Frederica und Maria Christina im Vatikan geboren und lebte mit ihrem Vater Ercole und ihrer Mutter Maria Orlandi in der Vatikanstadt, der kleinsten Nation und dem einzigen Gottesstaat der Welt. Ihr Vater arbeitete in der Verwaltung des Vatikans. Sein ganzes Leben lang hat er die Privataudienzen dreier Päpste koordiniert, von Paul VI., über Johannes Paul I. bis zu Johannes Paul II.
Emanuela besuchte das zweite Jahr der Sekundarschule in Rom. Obwohl das Schuljahr beendet war, nahm sie weiterhin drei Mal pro Woche Flötenunterricht an der Scuola di Musica Tommaso Ludovico da Victoria, die mit dem Pontificium Institutum Musicae Sacrae verbunden ist. Sie war auch Teil des Chors der Kirche Sant'Anna dei Palafrenieri im Vatikan.
Orlandi fuhr normalerweise mit dem Bus zur Musikschule, die sich an der Piazza di Sant'Apollinare befand. Nach ein paar Haltestellen stieg sie aus und lief die letzten paar hundert Meter zu Fuß. In der sengenden Hitze des 22. Juni 1983 verspätete sich Emanuela für den Unterricht, deshalb bat sie ihren Bruder Pietro, sie zur Schule zu fahren. Doch zu ihrem Bedauern hatte Pietro bereits seiner Freundin versprochen, sie zur Universität zu begleiten.
Am späten Nachmittag rief Emanuela zu Hause an und erklärt ihrer Schwester Frederica, dass sie ein äußerst lukratives Jobangebot von einem Vertreter von Avon Cosmetics erhalten habe.
Im Anschluss begibt sich Emanuela gemeinsam mit ihrer Klassenkameradin Mariagrazia Casini zur Bushaltestelle am Senatsgebäude und Emanuela erkundigt sich nach dem Ende der Chorprobe, da sie eine wichtige Verabredung habe. Als der Bus kommt, trennen sich ihre Wege. Während Mariagrazia mit anderen Mädchen in den Bus einsteigt, bleibt Emanuela zurück - wahrscheinlich um den Mann zu treffen, der ihr den Job angeboten hat.
An diesem Abend kehrt Emanuela nicht nach Hause zurück. Ihre Familie gerät in tiefe Sorge und beginnt sie zu suchen. Um 23:00 Uhr melden die Eltern Emanuelas Verschwinden der Polizei, doch diese wiegelt ab, es sei viel zu früh für eine Vermisstenmeldung. Die Eltern und Geschwister können in dieser Nacht nicht schlafen und beten unermüdlich für ihre Rückkehr.
Erst 40 Jahre nach dem Verschwinden von Emanuela Orlandi sollte ihre Familie erfahren, dass bereits an diesem Abend klar war, dass Emanuela entführt worden war. Um 20:00 Uhr klingelte das Telefon bei Carlo Maria Viganò, der damals für das Außenministerium des Vatikans tätig war. Viganò hob ab. Am anderen Ende der Leitung war Pater Romeo Panciroli, der damals das Pressebüro des Vatikans leitete und Viganò darüber informierte, dass er einen anonymen Anruf erhalten hatte, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass Emanuela Orlandi entführt worden sei.
Bei Tagesanbruch des folgenden Tages erstatten die besorgten Eltern von Emanuela Orlandi eine Vermisstenanzeige. Am Nachmittag nehmen sie Kontakt zum Schulleiter ihrer Musikschule auf, um herauszufinden, ob einer ihrer Mitschüler möglicherweise Informationen hat. Innerhalb der nächsten zwei Tage erscheinen Artikel über Emanuelas Verschwinden in den Zeitungen Il Tempo, Paese Sera und Il Messaggero. Die Familie druckt Hunderte von Flugblättern und verteilt sie an verschiedenen Orten in Rom, in der Hoffnung auf Rückmeldungen oder Hinweise über den Verbleib ihrer Tochter.
Trotz wiederholter Hinweise dauert es zehn Tage, bis die italienische Polizei den Fall ernst nimmt. Am Samstag, den 25. Juni, um 18.00 Uhr, erhielt die Polizei einen Anruf von einem Jugendlichen, der sich als sechzehnjähriger Junge namens "Pierluigi" ausgab. Er behauptete, dass er und seine Verlobte das vermisste Mädchen am Nachmittag auf der Piazza Navona getroffen hätten. Der junge Mann erwähnte Orlandis Flöte, ihr Haar und die Brille, die sie nicht gerne trug, sowie andere Details, die zu dem vermissten Mädchen passten. "Pierluigi" erwähnte, dass Emanuela gerade beim Friseur gewesen sei und sich als "Barbarella" vorgestellt habe. Er behauptete, sie sei von zu Hause weggelaufen und verkaufe jetzt Avon-Produkte.
Am 28. Juni erhielt die Familie Orlandi einen Anruf von einem Mann namens "Mario". Er behauptete, er besitze eine Bar in der Nähe von Ponte Vittorio, zwischen dem Vatikan und der Musikschule. Mario erzählte, dass eine neue Kundin namens "Barbara" ihm anvertraut habe, dass sie von zu Hause weggelaufen sei. Sie plane jedoch, rechtzeitig zur Hochzeit ihrer Schwester zurückzukehren.
Am 3. Juli richtet Papst Johannes Paul II. während des Angelus-Gebets einen dringlichen Appell an die Verantwortlichen für das Verschwinden von Emanuela Orlandi und bringt erstmals die offizielle Hypothese einer Entführung ins Spiel. Die Worte des Papstes treffen die Familie Orlandi wie ein Schock, als ob der Heilige Vater persönliche Informationen über das Schicksal ihrer Tochter hätte.
Die eindringliche öffentliche Ansprache des Papstes alarmiert nicht nur die Familie Orlandi, sondern auch die Medien. Der angesehene Journalist Andrea Purgatori berichtet damals über den Fall und blieb ihm bis heute treu, immer noch bestrebt, die Wahrheit über das Verschwinden von Emanuela Orlandi ans Licht zu bringen.
Am 5. Juli, 13 Tage nach dem rätselhaften Verschwinden von Emanuela, wird ihr Vater mit einem schockierenden Anruf konfrontiert. Während diesem Telefonat wird eine Tonaufnahme abgespielt, in der Emanuela selbst zu hören ist, wie sie ihren Namen und ihre Klasse angibt. Der anonyme Anrufer kündigt an, dass sich der Vatikan mit der Familie Orlandi in Verbindung setzen würde. Die plötzliche Telefonnachricht löst bei der Familie Orlandi zunächst Verwirrung aus, jedoch vermittelt sie auch neue Hoffnung. Die Information, dass sich der anonyme Anrufer auch an die Pressestelle des Vatikans gewandt hat, steigert die Erwartungen der Familie auf eine baldige Lösung.
Auch die Nachrichtenagentur ANSA erhielt am 6. Juli einen anonymen Anruf. Ein Redakteur beschrieb den Anrufer als jungen, nervösen Mann der sagte: „Wir geben Emanuela Orlandi zurück, sobald der Papstattentäter Mehmet Ali Ağca frei gelassen wird“. Zwei Jahren zuvor wurde Ali infolge der Schüsse auf den Papst Johannes Paul II. zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt worden. Die Entführer setzen für die Freilassung Ağcas eine Frist von 14 Tagen, bis zum 20 Juli.
Am 13. Mai 1981 schoss der Türke Ali Ağca dreimal aus unmittelbarer Nähe auf Papst Johannes Paul II. Der Papst wurde schwer verletzt, aber überlebte.
Der Attentäter wurde vor ein italienisches Gericht gestellt und in erster Instanz zu einer lebenslangen Haft verurteilt. Das Attentat auf den Papst wurde zum Schlüssel zur Entführung von Emanuela Orlandi.
Der Secret Service des Vatikans
Es lässt sich nicht bestreiten, die Lebensgeschichte von Camillo Cibin ist beeindruckend. Mit gerade einmal 21 Jahren trat er in den Dienst der päpstlichen Gendarmerie und arbeitete sich schnell in den Rang eines Leutnants hoch. Unter Papst Paul VI. wurde er oberster Personenschützer und war damit verantwortlich für die Sicherheit des Papstes.
Als das Gendarmeriekorps 1971 aufgelöst wurde, ernannte man Cibin zum stellvertretenden Leiter des neuen Zentralen Überwachungsbüros des Vatikanstaates. Nur ein Jahr später wurde er dessen Leiter und im Juli 1975 zum Superintendenten ernannt. In seiner langen Karriere war Cibin Leibwächter von sechs Päpsten und stand fast 60 Jahre lang an der Spitze des vatikanischen Sicherheitsdienstes.
Ab 1978 stand er im Dienst von Johannes Paul II. und war als dessen Schutzbeauftragter auch am 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz anwesend, als der Attentäter Mehmet Ali Ağca versuchte, den Pontifex zu töten und ihn dabei verletzte. Unmittelbar nach den Schüssen, während die Agenten den Papst schützten, sprang Cibin über die Holzbarrieren und konnte Ağca mit Hilfe einiger Anwesenden festsetzen.
Nach dem Attentat wollte Cibin bei Johannes Paul II. seinen Rücktritt einreichen, was dieser jedoch ablehnte. Im Januar 1982 wurde er zum Leiter der Zentralen Aufsichtsbehörde und später zum Generalinspektor ernannt und begleitete den Pontifex auf all seinen 104 Auslandsreisen und den zahlreichen Reisen in Italien und war für dessen Sicherheit verantwortlich.
Unter seiner Leitung hat sich die Gendarmerie des Vatikans zu einer Kriminalpolizei entwickelt, die nachrichtendienstliche Tätigkeiten ausübt und die persönliche Sicherheit des Papstes und des gesamten Vatikanstaates gewährleistet. Das Korps sorgt für die öffentliche Ordnung und ist für den Verkehr auf dem Territorium des Vatikans und in der extraterritorialen Peripherie zuständig.
Im Jahr 2000 wurde das Sicherheitskorps anlässlich des Jubiläums mit einem neuen Kontrollraum ausgestattet, einem Notfallkoordinationszentrum in der Region, das mit modernsten Alarm- und Videoüberwachungssystemen ausgestattet ist. Es handelt sich um eine ständige und ununterbrochene Besetzung. Das Kommando ist 24 Stunden am Tag und 365 Tage im Jahr einsatzbereit und verfügt über technologische und IT-Instrumente, um die von den Überwachungsnetzen gesammelten Informationen in Echtzeit zu analysieren und auszuwerten.
Camillo Cibin war für seine absolute Diskretion bekannt und schwieg wie ein Grab. Eine katholische Publikation sprach von "seiner absolut undurchdringlichen Reserviertheit", während es im Vatikan hieß, er habe nie auf eine Frage geantwortet, nicht einmal auf "Wie spät ist es?" Wenn eine Person so auffallend zurückhaltend ist und Anzeichen von Geheimniskrämerei sowie übertriebener Verheimlichung zeigt, kann mit berechtigtem Verdacht auf ein Geheimnis von erheblichem Umfang geschlossen werden. Dieses Geheimnis könnte sich auf eine an Unregelmäßigkeiten reiche Vergangenheit beziehen oder sogar Kenntnisse über illegale Aktivitäten bis hin zu kriminellen Handlungen bergen, die mit aller gebotenen Sorgfalt zu bewahren sind.
Am 3. Juni 2006, im Alter von 80 Jahren, trat er zurück und ging in den Ruhestand. Er hatte 60 Jahre lang für den Vatikan gearbeitet. Drei Jahre später starb er. Seine Beerdigung fand am 27. Oktober 2009 im Petersdom im Vatikan statt.
Unter der Leitung seines Nachfolgers Domenico Giani erfolgte eine umfassende Modernisierung des Korp auf allen Ebenen. In Zusammenarbeit mit der Special Intervention Group (GIS) der Carabinieri in Italien und dem Federal Bureau of Investigation (FBI) wurden Schulungs- und Ausbildungskurse entwickelt. Das Ergebnis dieser Bemühungen ist die jüngste Gründung der Interventionsgruppe zur Abwehr von Angriffen (GIR), die speziell darauf ausgerichtet ist, terroristische Anschläge auf die Person des Papstes zu verhindern, sowie einer Anti-Sabotage-Einheit.
Unter seiner Leitung trat der Vatikanstaat am 7. Oktober 2008 bei der Generalversammlung von Interpol in St. Petersburg bei. Er koordinierte und leitete die Ermittlungen im Fall von Paolo Gabriele (Vatileaks) und dem zweiten Leck, das als Vatileaks 2 bekannt wurde. Am 14. Oktober 2019 reichte er seinen Rücktritt als Chef der Gendarmerie ein, der von Papst Franziskus angenommen wurde. Der Rücktritt erfolgte aufgrund eines Informationslecks über die Suspendierung von fünf Vatikanmitarbeitern.
Der graue Wolf
Untersuchungsrichter Ferdinando Imposimato wollte Ali Ağca über seine Verbindung zu osteuropäischen Geheimdiensten befragen. Der Türke stand den rechtsextremen Grauen Wölfen nahe, aber Imposimato war sich sicher, dass er den Papst im Auftrag des sowjetischen KGB und seiner Schwesterorganisationen aus anderen kommunistischen Staaten töten sollte.
Ferdinando Imposimato (9. April 1936 - 2. Januar 2018) war ein italienischer Richter, Politiker, Rechtsanwalt und Ehrenvizepräsident des Obersten Kassationsgerichts. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre war er mit einer Reihe von Ermittlungen zu Terrorismusfällen befasst, darunter das Attentat auf Johannes Paul II. 1981 leitete er den Prozess gegen die Magliana-Bande ein, an dem wichtige Prälaten, Finanziers, Geldverleiher, Bauunternehmer, Politiker, Camorra-Gangster, Mafiosi und Mitglieder der öffentlichen Verwaltung beteiligt waren.
Mit dem Verweis auf ein Dokument von Giovanni Ventura, einem ehemaligen Mitglied der Terrororganisation Ordine Nuovo, deckte er auf, dass Mitglieder der Bilderberg-Gruppe hinter den in Italien verübten Massakern steckten, wobei sie neofaschistische Subjekte, einige Freimaurer und Agenten der Gruppe Gladio als Mittelsmänner und materielle Vollstrecker einsetzten.
Während seiner Tätigkeit als Anwalt für die Mutter von Emanuela Orlandi stellte Imposimato fest, dass es bereits vor dem 22. Juni 1983 Versuche gab, Kinder aus dem Vatikan zu entführen. Die Töchter des Kommandanten der vatikanischen Gendarmerie und des päpstlichen Kammerdieners fühlten sich beobachtet und verfolgt, weshalb sie außerhalb Roms untergebracht wurden, um sie vor möglichen Entführungen zu schützen.
Eine wichtige Rolle bei der Entführung von Emanuela Orlandi schreibt Imposimato der DDR-Staatssicherheit zu. Stasi-Leute sollen die Regie geführt haben bei dem Versuch, das gekidnappte Mädchen mit dem Papstattentäter Ali Agca auszutauschen. Der Rechtsanwalt versichert, dass ihm das ehemalige Stasi-Offiziere nach 1990 bestätigt haben. „Für die Entführungsversuche und die Entführung von Emanuela Orlandi hatten die ihre Leute sogar im Vatikan.
Die Stasi, der Staatssicherheitsdienst, war der Geheimdienst und Sicherheitsapparat der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) und spielte in den 1980er Jahren eine sehr aktive Rolle in Deutschland und Europa. Die Aktivitäten der Stasi konzentrierten sich hauptsächlich auf die Überwachung und Unterdrückung politischer Gegner und Dissidenten, um die Vorherrschaft der Kommunistischen Partei der DDR zu sichern. Diese Partei, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED), war die einzige zugelassene politische Partei in der DDR. Ihre Herrschaft beruhte auf der Ideologie des Marxismus-Leninismus und zielte auf den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft ab, in der alle Menschen gleich sind und es keine Ausbeutung gibt.
Ferdinando Imposimato war überzeugt, dass die Stasi einen Riesenschwindel organisiert hat. Man wollte den Eindruck erwecken, als handle es sich bei der Entführung um eine große internationale Geschichte, um den antikommunistischen Papst anzugreifen.
Die Erpressung
Nun zurück zum 6. Juli 1983. An diesem Tag erhielt die Nachrichten-Agentur ANSA einen weiteren Anruf. Ein junger Mann mit amerikanischem Akzent erläuterte darin die Bedingungen für den Austausch von Orlandi und Ağca und verlangte die Beteiligung des Papstes innerhalb von 20 Tagen. Als Beweis dafür, dass Emanuela in seinen Händen sei, verwies der Anrufer auf Dokumente, die in einem Papierkorb auf einem öffentlichen Platz in der Nähe des Parlaments zu finden seien. Die von der Polizei aufgefundenen Dokumente enthielten Fotokopien von Emanuelas Musikschulausweis, eine Quittung für das Schulgeld sowie eine handschriftliche Notiz des entführten Mädchens.
Am 17. Juli, drei Tage vor Ablauf des Ultimatums, wendet sich der Papst Johannes Paul II. erneut mit einem Appell an die gesamte Weltöffentlichkeit. Darin versicherte er, dass der Vatikan alles in seiner Macht stehende unternehmen würde, um diese schmerzvolle Angelegenheit zu einem guten Ende zu bringen.
Am nächsten Tag wurde nach einem Hinweis der Entführer in unmittelbarer Nähe des ANSA-Hauptquartiers eine Audiokassette entdeckt, die eine Aufnahme der Folterung eines Mädchens enthielt. Die Polizei teilte der Familie mit, dass sie nicht glaube, dass die aufgezeichnete Stimme die von Emanuela Orlandi sei. Antonio Asciore, ein ehemaliger DIGOS-Agent, der die Tonaufnahme gefunden und abgehört hat, behauptet jedoch, dass die veröffentlichte Aufnahme nicht das Original ist, das er gefunden hat.
Er argumentiert, dass das Original nicht nur eine weibliche, sondern auch eine männliche Stimme enthielt und länger war als die veröffentlichte Version. Dies wird durch die ursprüngliche Transkription der Aufnahme bestätigt, die von den italienischen Behörden unmittelbar nach ihrer Entdeckung angefertigt wurde und auf der männliche Stimmen zu hören sind. Die Aussage von Asciore stützt die Vermutung, dass die Originalaufnahme manipuliert wurde und die der Familie Orlandi überlassene Version unvollständig ist.
Geheime Verhandlungen
Kurz nach der Veröffentlichung der Aufnahme forderten die Entführer ein Telefonat, um über die Freilassung von Emanuela zu verhandeln. Allerdings bestanden sie darauf, nicht mit der Polizei, sondern mit dem Vatikan zu sprechen. In den folgenden vier Monaten hat Kardinal Agostino Casaroli mindestens 16 Gespräche mit den Entführern geführt. Laut Recherchen des Journalisten Andrea Purgatori hat der Staatssekretär Casaroli die italienische Regierung gebeten, die Polizei und den Geheimdienst im Hintergrund zu halten, und diese Bitte wurde offenbar befolgt. Bis heute hält der Vatikan geheim, worüber der Kardinal mit den Entführern von Emanuela Orlandi gesprochen hat.
Papst Johannes Paul II. ernannte Casaroli 1979 zum Staatssekretär. Während seiner Amtszeit (1979 -1990) wurde der Vatikan von verschiedenen Finanzskandalen erschüttert, die seine Verwaltung der Finanzen des Heiligen Stuhls in Frage stellten. Einer der Skandale, die während dieser Zeit auftraten, war der Zusammenbruch der Banco Ambrosiano, einer italienischen Bank, an welcher der Vatikan Hauptaktionär war. Es stellte sich heraus, dass die Bank mit der italienischen Mafia in Verbindung stand und in illegale Geschäfte verwickelt war.
Der 20. Juli verstreicht. Ali Ağca bleibt in Haft, ohne Reaktion der Entführer. In der Zwischenzeit bleibt Emanuelas Vater als Hofdiener für Johannes Paul II. tätig und hat täglich Kontakt mit dem Pontifex. Allerdings wird das Schicksal von Emanuela, seiner entführten Tochter, nie thematisiert. Es würde als respektlos gegenüber dem Papst empfunden, ihn mit solchen Fragen zu konfrontieren und der Papst spricht das Thema von sich aus nie an.
Überraschungsbesuch
Seit mittlerweile sechs Monaten bleibt das Schicksal von Emanuela ungewiss, bis die Familie zu Weihnachten 1983 einen überraschenden Besuch des Papstes erhält. Bei diesem Treffen äußert sich das Kirchenoberhaupt zu Emanuelas Entführung und bezeichnet sie als einen Akt des internationalen Terrorismus. Außerdem bietet er Pietro Orlandi, Emanuelas Bruder, unerwartet eine Stelle in der Vatikanbank an.
Zwei Jahrzehnte vergehen ohne eine neue Spur von Emanuela. Ercole Orlandi hat sein gesamtes Leben dem Vatikan gewidmet, doch sein Vertrauen in die katholische Kirche ist erloschen. 2004 sagte er kurz vor seinem Tod: „Ich wurde betrogen von jenen, denen ich treu gedient habe“.
Am 2. April 2005 verstarb auch Papst Johannes Paul II. Die Familie Orlandi hatte bis zuletzt gehofft, dass der Pontifex ihnen die Wahrheit über das Schicksal ihrer Tochter und Schwester offenbaren würde. Doch in seinem Testament verfügte er unter anderem, dass seine persönlichen Notizen verbrannt werden sollten. Es scheint, als habe der Papst seine Geheimnisse mit ins Grab genommen.
Die persönlichen Notizen des Papstes
Doch ein Jahr später erfährt Pietro Orlandi, dass der Pontifex seinen langjährigen und einflussreichen Sekretär Don Stanislao (Kardinal Stanisław Dziwisz) mit seinem Nachlass betraute und offenbar hat dieser den letzten Willen des Kirchenoberhaupts hinsichtlich persönlicher Notizen nicht respektiert. Die Aufzeichnungen erscheinen ihm zu wichtig, um sie zu verbrennen.
Mehr als zehn Jahre lang bittet Pietro Orlandi deshalb die Stiftung von Johannes Paul II. um Einsicht in diese Papiere. Kardinal Dziwisz, der ehemalige Sekretär von Papst Johannes Paul II., war von 2005 bis 2021 Mitglied des Vorstands der Stiftung. Doch alle seine Anfragen werden abgelehnt. Spätere Anschuldigungen gegen Stanislao könnten eine Erklärung liefern, denn im Jahr 2007 erhob die italienische Tageszeitung La Stampa Vorwürfe gegen Kardinal Stanisław Dziwisz, dem Papst Informationen über pädophile Verbrechen von Geistlichen vorenthalten zu haben.
So zum Beispiel über den ehemaligen Erzbischof von Washington DC, Kardinal Theodore McCarrick, welcher in den letzten Jahren aufgrund mehrerer Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs in die Schlagzeilen geraten ist. Die Vorwürfe gegen ihn reichen bis in die 1970er Jahre zurück und wurden erst 2018 öffentlich. McCarrick soll das Machtungleichgewicht innerhalb der katholischen Kirche ausgenutzt haben, um seine Taten zu vertuschen und seine Opfer zum Schweigen zu bringen.
McCarrick, der einst als mächtigster Kardinal der Vereinigten Staaten galt, wurde 2019 von Papst Franziskus seines Amtes und Titel enthoben, nachdem Beweise dafür vorlagen, dass er jahrzehntelang Kinder und Seminarschüler sexuell missbraucht hatte. Ein Jahr zuvor hatte der Vatikan einen Bericht veröffentlicht, demzufolge der ehemalige Papst Johannes Paul II., der McCarrick zum Kardinal und Erzbischof von Washington, D.C., ernannt hatte, von den Vorwürfen wusste und sie ignorierte. Kardinal Stanislaw Dziwisz, der ehemalige Sekretär von Papst Johannes Paul II., wurde ebenfalls beschuldigt, McCarrick bei der Vertuschung seiner Verbrechen unterstützt zu haben.
Außerdem wurde ihm vorgeworfen, er habe Beweise dafür vernichtet, dass McCarrick ein Serienvergewaltiger war. Im Jahr 2020 veröffentlichte eine polnische Zeitung Beweise dafür, dass Dziwisz von McCarricks Verbrechen wusste, aber nichts unternommen hatte, um ihn zur Verantwortung zu ziehen.
Im Zuge des Epstein-Skandals wurde bekannt, dass Kardinal McCarrick und Epstein Freunde waren und sich gegenseitig unterstützten. McCarrick hat in der Vergangenheit auch öffentlich seine Bewunderung für Epstein zum Ausdruck gebracht und ihn als "edlen Menschen" bezeichnet.
Ein weiterer Vorwurf lautet, dass McCarrick selbst in den Epstein-Skandal verwickelt war. Im Jahr 2019 wurde aufgedeckt, dass McCarrick im Jahr 2010 eine Spende in Höhe von 100.000 Dollar von der Epstein Charitable Foundation an die Papststiftung geleistet hatte. McCarrick steht im Verdacht, in den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen verwickelt zu sein und auch minderjährige Jungen missbraucht zu haben, die mit Epstein in Verbindung standen.
McCarrick soll am 3. September 2023 vor Gericht erscheinen. Im Januar 2022 beantragten seine Anwälte jedoch die Einstellung des Strafverfahrens wegen sexuellen Missbrauchs gegen ihren Mandanten. Der 92-jährige McCarrick befände sich im Zustand eines „signifikant“ geistigen Verfalls. Die Juristen beziehen sich auf ein neurologisches Gutachten der Johns Hopkins University von Anfang Dezember. Demnach verschlimmerten sich McCarricks neuropsychologische Defizite rapide. Dies beeinträchtige seine kognitiven Fähigkeiten und sein Gedächtnis, argumentieren sie gegenüber dem Bezirksgericht Dedham in Massachusetts. Er sei nicht in der Lage, in dem Prozess an seiner Verteidigung mitzuwirken.
Die Basilika von SantÀpollinare
Am 12. September 2005 sorgt ein Hinweis plötzlich für Aufsehen und rückt das Schicksal von Emanuela Orlandi erneut in den Fokus der Medien. Ganze 22 Jahre nachdem Emanuela spurlos verschwand, erhält ein lokaler Nachrichtensender einen anonymen Anruf mit einem Hinweis, welcher der Entführung eine völlig neue Dimension verleiht. „Wenn sie die Lösung im Fall Emanuela Orlandi suchen, sehen sie nach, wer in der Krypta der Basilika von SantÀpollinare bestattet liegt – und welchen Gefallen Renatino damals Kardinal Poletti getan hat.“
In der Krypta fand sich das Grab von Enrico De Pedis. Enrico, genannt "Renatino", war der letzte große Pate einer ehemaligen Mafia-Organisation namens "Banda della Magliana", die in den 1970er und 1980er Jahren in Rom aktiv und in zahlreiche kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel, Erpressung, Entführung und Mord verwickelt war. De Pedis wurde am 2. Februar 1990 von seinen eigenen Leuten in einen Hinterhalt gelockt und in der Nähe des Campo de' Fiori erschossen. Die genauen Umstände des Mordes sind bis heute unklar. Es wurde spekuliert, dass die Tat mit einem internen Konflikt innerhalb der römischen Mafia oder einer Auseinandersetzung mit der römischen Kirche in Verbindung stand. Im Jahr 2012 teilte der italienische Staatsanwalt Andrea De Gasperis der Journalistin Raffaella Notariale jedoch mit, dass die Täter seit Beginn ihrer Vorbereitungen überwacht wurden.
Eine Rekonstruktion des gesamten Mordfalls, von der Planung des Verbrechens bis hin zum Aufenthaltsort der Täter und ihrer Festnahme im Ausland, wurde von der „Hohen Kommission für die Koordinierung des Kampfes gegen die Mafia-Kriminalität“ durchgeführt und diente als Grundlage für den Prozess gegen die Mörder von De Pedis. Trotzdem wurde in dem Bericht festgestellt, dass keine Schritte unternommen wurden, um das Attentat zu verhindern. Obwohl der Mord an De Pedis weithin als eine interne Abrechnung innerhalb der römischen Mafia betrachtet wird, besteht der Verdacht, dass die Geheimdienste eine Rolle bei der Eliminierung von De Pedis gespielt haben könnten, da er zu mächtig geworden war. Er wurde erst auf dem Verano-Friedhof bestattet, jedoch zwei Monate später in die Basilika Sant'Apollinare überführt und dort beigesetzt.
Die Basilika Sant'Apollinare ist eine Kirche des Heiligen Stuhls, die dem heiligen Apollinaris von Ravenna gewidmet ist. Hier wurden im Laufe der Zeit verschiedene hochangesehene Persönlichkeiten beerdigt, darunter auch namhafte Künstler, Politiker und einige Päpste. Es ist höchst ungewöhnlich und fragwürdig, dass ein Mafioso wie Enrico De Pedis in einer Kirche wie dieser beerdigt wurde. Der Journalistin Raffaella Notariale gelang es, sowohl Fotos des Grabes als auch die Originaldokumente aufzufinden, welche die Überführung des Leichnams von De Pedis vom Verano-Friedhof in Rom in die Krypta der Basilika von Sant'Apollinare genehmigten. Die betreffenden Dokumente trugen die Unterschriften von Kardinal Ugo Poletti und Monsignore Piero Vergari.
Was als Entführung begann, durch Papst Paul II. zu einem Akt des internationalen Terrorismus erklärt wurde, offenbart sich nun als hochkomplexer Kriminalfall in welchen der Vatikan, die Mafia, die italienische Regierung und eine mächtige Geheimloge involviert sind.
Die rechte Hand des Teufels
Kardinal Ugo Poletti war als persönlicher Sekretär von Papst Johannes Paul II. das Bindeglied zwischen dem Staatssekretär des Vatikans Agostino Casaroli (welcher die geheimen Verhandlungen mit den Entführern führte), dem Premierminister von Italien Giulio Andreotti und dem römischen Mafioso-Paten Enrico De Pedis. Kardinal Ugo Poletti soll laut einer Liste des italienischen Journalisten Carmine Pecorelli ebenfalls Mitglied der Freimaurerloge Propaganda Due (P2) gewesen sein und diese Enthüllung war wohl der Grund, warum Pecorelli am 20. März 1979 in Rom mit vier Pistolenschüssen auf offener Strasse ermordet wurde.
Am 6. April 1993 sagte der ausgestiegene Mafia-Boss Tommaso Buscetta in Palermo vor einem Richter aus, dass Pecorelli im Zusammenhang mit Interessen von Giulio Andreotti ermordet worden war. Es sei ein Auftragsmord und einen Gefallen für Andreotti gewesen. Andreotti habe befürchtet, dass Pecorelli Informationen über ihn veröffentlichen würde, die seine politische Karriere hätten beenden können.
Giulio Andreotti, seines Zeichens eine herausragende Persönlichkeit der italienischen Politik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, spielte eine überaus wichtige Rolle in der Regierungsgeschichte Italiens. Er hatte verschiedene Ministerposten inne und war insgesamt an 33 von 54 Regierungen zwischen 1945 und 1999 beteiligt. Beeindruckender Weise bekleidete er sieben Mal das Amt des italienischen Ministerpräsidenten und war somit eine der prägendsten Figuren der italienischen Nachkriegszeit. Andreotti nahm an mehreren Bilderberg-Konferenzen in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren teil und war auch in den 1980er Jahren ein regelmäßiger Teilnehmer des Welt-Wirtschaft-Forums (WEF) in Davos.
Doch Giulio Andreotti führte ein Doppelleben wie es im Lehrbuch steht. Er war prominentes Mitglied von Propaganda Due und wurde beschuldigt in Verbindung mit der Mafia zu stehen. Ein Gerichtsverfahren wegen Anstiftung zum Mord endete mit einer Verurteilung in zweiter Instanz, wurde jedoch aufgehoben und 2003 aufgrund von Verjährung eingestellt. Ein weiteres Gerichtsverfahren endete 2004 mit einem letztinstanzlichen Freispruch. Trotz der Anschuldigungen blieb Andreotti eine bedeutende Figur der italienischen Politik und seine lange und einflussreiche Karriere hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf die Geschichte des Landes.
Giulio Andreotti und Kardinal Ugo Poletti hatten eine enge Beziehung, die auf ihre gemeinsamen politischen und religiösen Überzeugungen zurückzuführen war. Beide Männer waren Mitglieder der christ-demokratischen Partei Italiens, teilten konservative Ansichten und beide waren sie Mitglieder in der P2-Freimaurer-Loge. Poletti spielte eine wichtige Rolle in der politischen Karriere von Andreotti und wurde oft als Berater und Vertrauter von Andreotti angesehen und half ihm, politische Entscheidungen zu treffen.
Strategie der Spannung
In den 1970er und 1980er Jahren kooperierten in Italien zwei von den USA unterstützte Gruppierungen eng miteinander. Eine dieser Gruppen war die geheime Organisation Propaganda Due (P2), welche gegen die Kommunisten agierte und finanzielle Unterstützung von den USA erhielt. Die zweite Gruppierung war die geheime Armee Gladio, ein geheimes paramilitärisches Netzwerk, das während des Kalten Krieges in vielen Ländern Europas aktiv war. Es wurde von verschiedenen westlichen Geheimdiensten wie der CIA und dem britischen MI6 ins Leben gerufen und unterstützt. Das Ziel von Gladio war es, im Falle einer sowjetischen Invasion in Westeuropa einen Guerillakrieg zu führen und so den Kommunismus zu bekämpfen. Licio Gelli fungierte als einer der Anführer der P2, doch als die Organisation aufgedeckt wurde, entzog er sich der Verhaftung und floh nach Südamerika. Nach dem Ende des Kalten Krieges bestätigte Gelli, dass Gladio aus Individuen bestand, die eine vehement antikommunistische Haltung vertraten.
Im Jahr 1984 führte der Untersuchungsrichter Felice Casson eine Untersuchung zum Bombenattentat von Peteano im Jahr 1972 durch, bei dem drei Menschen getötet wurden und die Täter nicht ermittelt werden konnten. Im Zuge seiner Untersuchung stieß er auf zahlreiche Unstimmigkeiten in den früheren Untersuchungsergebnissen, die auf gezielte Manipulation und Beweisfälschung hinwiesen. Als Casson eine geheime Waffenlagerung in einem verlassenen NATO-Bunker in Italien entdeckt und dieses dem Netzwerk zugeordnet werden konnte, begann eine Reihe von Untersuchungen in verschiedenen Ländern Europas, um das Ausmaß von Gladio zu untersuchen.
Schließlich identifizierte Casson den Rechtsextremisten Vincenzo Vinciguerra, ein Mitglied der Terrororganisation Ordine Nuovo, der anschliessend ein umfangreiches Geständnis ablegte. Vinciguerra gab an, von Personen aus dem Staatsapparat gedeckt worden zu sein und dass das Attentat Teil einer umfassenden "Strategie der Spannung" geplant wurde. Das primäre Ziel dieser Strategie war es, durch gezielte Anschläge eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit zu schaffen, welche dazu führte, dass die Bevölkerung nach einem stärkeren Staat und einer Einschränkung der individuellen Freiheiten verlangte. Diese Aussage wiederholte er im Rahmen des Gerichtsprozesses.
Gladio
Gladio war an zahlreichen illegalen Aktivitäten beteiligt, darunter Terrorismus und politische Attentate. Aus verschiedenen Berichten und Untersuchungen geht hervor, dass Gladio in mehrere politische Vorfälle in Europa verwickelt war. Ein bekanntes Beispiel ist der Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna im Jahr 1980, bei dem 85 Menschen getötet und über 200 verletzt wurden. Es wird vermutet, dass dieser Anschlag von der rechtsextremen Terrorgruppe "Ordine Nuovo" im Auftrag und mit Unterstützung von Gladio verübt wurde. Zu den weiteren Anschlägen, die mit Gladio in Verbindung gebracht werden, gehören die Ermordung des italienischen Journalisten Mino Pecorelli im Jahr 1979 und die Ermordung des italienischen Richters Giovanni Falcone im Jahr 1992.
Eine vom italienischen Parlament durchgeführte Untersuchung ergab, dass einige Mitglieder der Geheimorganisation Propaganda Due (P2), die im Rahmen von Gladio tätig war, Verbindungen zum Vatikan hatten. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti sowie Kardinal-Staatssekretär Agostino Casaroli und der ehemalige CIA-Direktor William Casey waren Mitglieder der P2-Loge und in die Gladio-Affäre verwickelt.
Während des Kalten Krieges bediente sich der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan prominenter Katholiken in seiner Regierung, um Papst Johannes Paul II. über den Stand der Dinge in dieser heiklen Zeit auf dem Laufenden zu halten. Eine besonders wichtige Rolle spielte dabei William Casey, der als Leiter des CIA sogar heimlich in einem fensterlosen C-141-Jet nach Rom flog und dann Undercover in den Vatikan gebracht wurde.
Im Zusammenhang mit dem Verschwinden von Emanuela Orlandi haben mehrere Ermittler und Journalisten eine Verbindung zwischen den paramilitärischen Geheimorganisationen Gladio und P2 sowie dem Vatikan aufgedeckt. Basierend auf vorhandenen Zeugenaussagen, Indizien, Beweisen und Verbindungen sowie dem beharrlichen Schweigen der beteiligten Personen, ergibt sich ein äußerst schwerwiegender und hochgradig alarmierender Verdacht.
Diese Verbindungen lassen kaum Raum für alternative Erklärungen als die Annahme, dass Emanuela Orlandi von einem Konsortium, bestehend aus dem Vatikan, der Mafia, P2, der Stasi und Gladio entführt wurde. Das Ziel dieser Entführung war es, mitten im Kalten Krieg eine antikommunistische Atmosphäre der Angst und Unsicherheit zu schaffen, welche dazu führte, dass die Bevölkerung nach einem stärkeren Staat und einer Einschränkung der individuellen Freiheiten verlangte.
Emanuela wurde darüber hinaus möglicherweise als Geisel gegen ihren eigenen Vater eingesetzt, weil dieser von den dunklen Machenschaften des Vatikans wusste. Das vorliegende Gesamtbild lässt keinen Zweifel daran, dass diese skrupellose und perfide Tat von den beteiligten Gruppen bis ins kleinste Detail ausgearbeitet und mit eiskalter Präzision umgesetzt wurde.
Der Mafioso und die Kirche
Monsignore Piero Vergari war der Rektor der Basilika und ein persönlicher Freund von De Pedis. Als Enrico De Pedis am 25. Juni 1988 seine Verlobte Carla Di Giovanni heiratete, fand die Trauung in der Basilika Sant'Apollinare statt und wurde von Monsignore Pietro Vergari vollzogen. Nun war geklärt wer in der Krypta der Basilika von SantÀpollinare bestattet lag, aber welchen Gefallen hat Renatino damals Kardinal Poletti getan? Eines ist klar, es muss sich um eine außerordentliche Gefälligkeit von immenser Größe gehandelt haben. Der Gefallen den Renatino De Pedis Kardinal Poletti getan hat – war die Entführung von Emanuela Orlandi.
Die Familie Orlandi fordert die Behörden wiederholt auf, die Grabstätte von De Pedis zu öffnen. Sie vermuten darin die sterblichen Überreste von Emanuela zu finden. Doch alle ihre Anträge werden systematisch abgewiesen. Dieses Verhalten deutet auf einen erheblichen Mangel an Transparenz und auf einen offensichtlich fehlenden Willen hin, eine ordnungsgemäße Untersuchung dieses abscheulichen Verbrechens zu gewährleisten.
Pietro Orlandi engagiert sich durch eine Vielzahl von Interviews und Talkshow-Auftritten aktiv darin, den öffentlichen Druck auf die Behörden zu erhöhen. Das Schicksal von Emanuela hat eine tiefe Betroffenheit bei vielen Menschen ausgelöst, und die Forderungen nach Antworten werden immer lauter. Es ist erschütternd zu sehen, wie sich die Verantwortlichen in Politik, Polizei, Geheimdienst und Vatikan systematisch der Verantwortung entziehen und hartnäckig schweigen, während die Fragen um das Verschwinden von Emanuela unbeantwortet bleiben. Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass die Presse den Heiligen Stuhl seit langem mit einer unverzeihlichen Milde behandelt und ihre Verantwortung als unabhängige Aufsichtsinstanz ignoriert.
Eine Zeugin meldet sich
Doch zum 25. Jahrestag des Verschwindens von Manuela zeichnet sich eine weitere Wendung ab. Am 21. April 2008 begibt sich Sabrina Minardi auf einen Polizeiposten, um eine Aussage als Zeugin zu dem Tag zu machen, an dem Emanuela verschwand. Sabrina Minardi gab zu Protokoll, dass das Verschwinden von Emanuela Orlandi in Verbindung mit der Beziehung des Vatikans zur Magliana-Bande stehe. Insbesondere sei De Pedis und Monsignore Marcinku involviert. Gemäß Minardi habe De Pedis im Jahr 1983 im Auftrag von Erzbischof Marcinkus die damals 15-jährige Emanuela Orlandi entführt.
Pietro Orlandi kannte Paul Casimir Marcinkus, dem früheren Leiter der Vatikan Bank. In der Tat hatte er über viele Jahre für ihn gearbeitet, nachdem ihm Papst Johannes Paul II. während seinem überraschenden Weihnachtsbesuch im Jahr 1983 eine Stelle in der Vatikan Bank angeboten hatte. Rückblickend werfen der Weihnachtsbesuch und das Jobangebot durch Papst Johannes Paul II. immer mehr Fragen auf. Pietro Orlandi hatte zu dieser Zeit keine Kenntnis von den dunklen Machenschaften der Vatikan Bank und ihrer Verbindung zu De Pedis und der Magliana-Bande.
Der Präsident der Vatikan Bank
Paul Casimir Marcinkus begann 1950 mit Sonderaufträgen für den Vatikan und freundete sich während seines Studiums des Kirchenrechts an der Gregoriana mit dem späteren Papst Paul VI. an. Nach seinem Abschluss absolvierte er das Diplomatenprogramm an der Päpstlichen Kirchenakademie und diente in Bolivien und Kanada als Sekretär in der Nuntiatur des Heiligen Stuhls. Später arbeitete er im Staatssekretariat in Rom und half bei der Organisation von päpstlichen Überseereisen. Er wurde 1969 zum Titularerzbischof geweiht und 1981 von Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof und Vizepräsidenten des Gouvernements des Staates Vatikanstadt befördert.
Im Jahr 1968 wurde Paul Marcinkus von Papst Paul VI. zum Sekretär der Vatikanbank ernannt. Drei Jahre später, im Alter von 48 Jahren, wurde er zum Präsidenten der Bank befördert und bekleidete diese Position bis 1989. Obwohl er als fähiger Verwalter angesehen wurde, hatte Marcinkus keinerlei Erfahrung im Bankwesen. Nach seiner Ernennung bei der Vatikanbank absolvierte er eine kurze Ausbildung und Hospitationen bei verschiedenen Finanzinstituten, um sich auf seine neue Rolle vorzubereiten.
Bereits im April 1973 wurde Paul Marcinkus von US-Bundesstaatsanwalt William Aronwald und Bill Lynch, dem Leiter der Abteilung für organisierte Kriminalität und organisiertes Verbrechen des US-Justizministeriums, zu seiner Beteiligung an der Lieferung von gefälschten Anleihen im Wert von 14,5 Millionen Dollar an den Vatikan im Juli 1971 befragt. Diese gefälschten Anleihen waren Teil einer Gesamtforderung von 950 Millionen Dollar, die in einem Schreiben auf dem Briefkopf des Vatikans angegeben waren. Marcinkus' Vernehmung zeigt, dass seine Verbindungen zum organisierten Verbrechen und seine Rolle in der Vatikanbank frühzeitig von der Justiz erkannt wurden. Trotz dieser Anschuldigungen konnte Marcinkus seine Position in der Vatikanbank bis 1989 beibehalten.
Marcinkus' Name und das Schreiben waren bei umfangreichen Ermittlungen gegen einen internationalen Mafioso aufgetaucht. Marcinkus hielt die Anschuldigungen für schwerwiegend, aber er fände sie nicht begründet genug, dass er die Vertraulichkeit der Vatikanbank preisgeben würde, um seine Unschuld zu beweisen. In den USA wurde damals auf höchster Ebene entschieden, dass der Fall gegen Marcinkus nicht weiterverfolgt werden dürfe. Vermutlich spielte seine diplomatische Immunität als Präsident der Vatikanbank hierbei eine Rolle. Die Brisanz der Befragung von Kardinal Paul Marcinkus und die Entscheidung, keine weiteren Ermittlungen gegen ihn einzuleiten, wird einem erst dann vollständig deutlich, wenn man das Wesen des Mannes berücksichtigt, dessen Name mit Marcinkus in Verbindung gebracht wurde - Michele Sindona.
Michele Sindona
Der gebürtige Sizilianer Michele Sindona (8. Mai 1920 - 22. März 1986) zeigte früh eine Begabung für Mathematik und Wirtschaft. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften in Messina arbeitete er als Steueranwalt und Buchhalter in Norditalien und begann bald mit der Mafia in Schmuggelgeschäften zusammenzuarbeiten. Seine Fähigkeiten bei Geldtransfers zur Steuervermeidung wurden den Mafiabossen bald bekannt und er wurde eng mit der Gambino-Familie verbunden, um deren Gewinne aus dem Heroinverkauf zu verwalten.
Innerhalb eines Jahres, nachdem die Gambino-Familie ihn mit der Verwaltung ihrer Heroinprofite beauftragt hatte, erwarb Michele Sindona seine erste Bank und wurde auch ein enger Freund des zukünftigen Papstes Giovanni Battista Montini. Montini bekleidete zu dieser Zeit das Amt des Erzbischofs der Erzdiözese Mailand und des Kardinals. Als Montini zum Papst Paul VI. gewählt wurde, hatte Sindona bereits über seine Holdinggesellschaft Fasco viele weitere italienische Banken erworben und sein Aufstieg setzte sich bis zum Beginn seiner Zusammenarbeit mit der Vatikanbank im Jahr 1969 fort. Infolgedessen wurden enorme Geldbeträge von Sindonas Banken über den Vatikan zu Schweizer Banken transferiert, und er begann, in großem Stil gegen die wichtigsten Währungen zu spekulieren. Seine Verbindung zu Papst Paul VI und Marcinkus, dem Leiter der Vatikanbank, stellte eine potenziell explosive Angelegenheit dar.
Sindonas Eintritt in die Freimaurerei erfolgte im Jahr 1973. Damals trat er in die Freimaurerloge Giustizia e Libertà ein, eine gedeckte Loge der Universellen Freimaurerei von Piazza del Gesù, deren Mitglieder sich später fast vollständig der Loge P2 von Licio Gelli anschließen sollten. In der Loge Giustizia e Libertà, in der die prominentesten "Brüder" zusammenkamen, traf Sindona mit Persönlichkeiten aus den höchsten institutionellen und politischen Ämtern zusammen, aber auch mit prominenten Mafiosi wie Don Agostino Coppola, dem Verwalter des Doms von Monreale, der als Mitglied der Bande von Luciano Leggio zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde.
Sindona gründete in den 60er und 70er Jahren mehrere Banken (Banca privata italiana, Finabank in Genf, Franklin Bank in New York), die der Mafia fortan als Vehikel zur Geldwäsche dienen sollten. Die Banken wurden benutzt, um Kapital aus illegalen Aktivitäten der Mafia (wie Drogen- und Waffenhandel sowie Erpressung) ins Ausland zu transferieren und somit den politischen, finanziellen, militärischen und kirchlichen Sphären enormen Kapitalexport zu ermöglichen. 1972 erwarb Sindona die "Franklin National Bank" für 40 Millionen Dollar, deren Herkunft nie geklärt werden konnte.
Sindona pflegte Freundschaften und Verbindungen auf höchster Ebene. So unterhielt er Beziehungen zur Entourage von Präsident Nixon, zu Teilen der CIA und zu den höchsten Rängen der italienischen Justiz, wie dem Generalstaatsanwalt von Rom, Carmelo Spagnuolo, welcher ebenfalls ein Mitglied von Propaganda Due war und später in New York und vor dem US-Botschafter in Rom zu seinen Gunsten aussagen sollte.
Eine ganz besondere Freundschaft pflegte Sindona mit dem italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti, welcher ihn Anfang der 1970er Jahre zum "Retter der Lira" erklärte, da er durch seine Aktivitäten den Wechselkurs stabilisierte und damit zur Stabilisierung der schwachen italienischen Wirtschaft beitrug. Sindona war ein bedeutender Unterstützer von Andreottis christdemokratischer Partei und konnte Aufgrund seiner einflussreichen Verbindungen und finanziellen Machtposition das politische Geschehen in Italien maßgeblich beeinflussen.
Im Jahr 1976 deckte der Untersuchungsausschuss des US-Kongresses unter dem Vorsitz von Otis Pike die "verdeckten" Aktivitäten der CIA auf und enthüllte, dass General Vito Miceli, der Leiter des militärischen Nachrichtendienstes Italiens, 11 Millionen US-Dollar erhalten hatte, um sie als Wahlkampfhilfe an 21 italienische Politiker mit antikommunistischer Gesinnung und Zugehörigkeit zu verteilen. All dies geschah über die Netzwerke von Michele Sindona und mit dem Segen des Vatikans.
Als ein enger Vertrauter des IOR (Istituto per le Opere Religiose – der offizielle Name der Vatikanbank) arrangierte Sindona im Jahr 1968 im Namen des IOR, dessen Präsident Paul Marcinkus war, eine riesige Operation zur Übertragung und Umwandlung italienischer Wertpapiere des Heiligen Stuhls in ausländische Wertpapiere und Vermögenswerte.
Sindona wurde schließlich aufgrund seiner illegalen Aktivitäten im Finanzwesen entlarvt und vor Gericht gestellt. Der Wendepunkt kam, als eine von Sindonas Banken in den USA, die Franklin National Bank, in finanzielle Schwierigkeiten geriet und schließlich zusammenbrach. Die US-Regierung begann eine Untersuchung gegen Sindona und seine Geschäftspartner, um herauszufinden, ob sie illegal Gelder von der Bank abgezweigt hatten.
1979 sollte Sindona in Italien wegen Bankbetrugs, Urkundenfälschung, Veruntreuung von Geldern und dem Mord an Giorgio Ambrosoli angeklagt werden. Ambrosoli war der italienische Anwalt, der den Konkurs des Sindona-Imperiums untersuchte und Beweise für die illegalen Aktivitäten des Bankiers fand. Um Ambrosoli daran zu hindern, Beweise gegen ihn vor Gericht zu bringen, ließ Sindona ihn ermorden.
Im August 1979, als die US-Behörden gegen ihn ermittelten, verschwand Sindona plötzlich aus New York und reiste mit einem falschen Pass über Wien und Athen nach Italien, wo er am 17. August in Palermo eintraf, um sich mit John Gambino zu treffen, der extra aus New York angereist war. Zweck dieser Reise war es, eine Entführung durch eine nicht existierende terroristische Gruppe vorzutäuschen und verschleierte erpresserische Warnungen zu senden, um die Rettung seiner Banken und damit des von Gambino und den anderen Mafiosi investierten Geldes zu erreichen. Zu diesem Zweck ließ sich Sindona sogar unter Narkose ins Bein schießen, um die Entführung realistisch erscheinen zu lassen.
Am 9. Oktober 1979 wurde der Mafioso Vincenzo Spatola verhaftet, als er versuchte, einen Brief von Sindona zu überbringen, so dass den Ermittlern sofort klar war, dass die Entführung nur vorgetäuscht war. Am darauffolgenden 16. Oktober, nachdem verschiedene Erpressungsversuche gescheitert waren, tauchte Sindona in einer Telefonzelle in Manhattan "wieder auf", in einem körperlichen Zustand, der dem eines Entführten entsprach, und stellte sich den Behörden.
Die Kirche und die Mafia
Ein Jahr später wurde Sindona am 15. Oktober 1980 in New York wegen Verbrechen im Zusammenhang mit Finanzbetrug, einschließlich der Beteiligung am Zusammenbruch zweier Banken in Italien und den Vereinigten Staaten, Geldwäsche und Bestechung vor Gericht gestellt. Seine Verteidigung wurde von einem der führenden amerikanischen Anwälte, Ivan Fisher, übernommen. Sindona wurde in allen 65 Anklagepunkten für schuldig befunden und zu einer 25-jährigen Haftstrafe verurteilt und in den Hochsicherheitsgefängnissen Marion und später in Allenwood inhaftiert.
Dieser Prozess enthüllte die Verbindungen Sindonas zur sizilianischen Mafia sowie seine entscheidende Rolle bei der Manipulation der Finanzen des Vatikans und der Vatikanbank, einschließlich der Ausstellung von gefälschten Anleihen im Wert von 14,5 Millionen Dollar.
Während er in einem US-Bundesgefängnis saß, beantragte die italienische Regierung die Auslieferung, um ihn auch in Italien vor Gericht stellen zu können. Dem Antrag wurde stattgegeben und Sindona kehrte am 25. September 1984 nach Italien zurück, wo er in Voghera inhaftiert war.
Am 16. März 1985 wurde Michele Sindona im Zusammenhang mit dem Konkurs der Banca Privata Italiana wegen betrügerischen Konkurses zu einer Haftstrafe von 12 Jahren verurteilt. Ein Zivilgericht legte den Schadensersatz fest und ordnete an, dass Sindona unverzüglich einen vorläufigen Betrag von zwei Milliarden Lire an die Liquidatoren der Bank und an die Kleinaktionäre zahlen sollte, die eine Zivilklage eingereicht hatten.
Zwei Tage später, am 18. März 1986 wurde Sindona letztlich wegen Anstiftung zum Mord an Giorgio Ambrosoli zu lebenslanger Haft verurteilt. Daraufhin drohte er damit, seine langjährig verschwiegenen Geheimnisse preiszugeben. 48 Stunden später trank Sindona im Gefängnis von Voghera einen mit Zyankali vergifteten Kaffee und verstarb schließlich am 22. März 1986 im Krankenhaus von Voghera, nachdem er zwei Tage im Koma gelegen hatte. Obwohl die Justiz offiziell den Tod von Sindona als Suizid einstufte, konnte nicht geklärt werden, wie das Gift in seinen Besitz gelangt war.
Was hätte Sindona denn noch ausplaudern können? Ist nicht schon alles gesagt worden? Die Verstrickungen zwischen dem Heiligen Stuhl, der Vatikanbank, der Mafia, der italienischen Regierung und der CIA in Drogen-und Waffenhandel, Geldwäsche, Erpressung und Mord sind erwiesen. Das Einzige, was in dieser Liste fehlt, ist die Lieblingsbeschäftigung der katholischen Kirche: die sexuelle Ausbeutung. Besteht darüber hinaus die Möglichkeit, dass sich diese Aktivitäten sogar auf Menschen-, Kinder- und Organhandel erstrecken?
Im Mai 2012 stellte Gabriele Amorth, ein katholischer Priester und bekannter Exorzist, eine neue Möglichkeit bezüglich Emanuela Orlandi in den Raum, welche genau in diese Richtung zeigt. Er beschuldigte eine Gruppe, zu der auch Angestellte der Polizei des Vatikanstaates und ausländische Diplomaten gehörten, das Mädchen entführt und für Partys sexuell ausgebeutet zu haben. Später, so Amorth, sei sie ermordet und ihre Leiche beseitigt worden.
Zudem warnte Amorth Papst Franziskus eindringlich, dass seine Forderung nach einer "armen Kirche" ihn in dieselbe Gefahr bringen könnte wie seinen verstorbenen Vorgänger Johannes Paul I., der unter mysteriösen Umständen verstarb. Er warnte, er würde dadurch die Freimaurer herausfordern.
Die Ermordung von Papst Johannes Paul I.
1984 wurde Paul Casimir Marcinkus (der Direktor der Vatikanbank von 1971 bis 1989) von David Yallop als Komplize bei der Ermordung von Papst Johannes Paul I. genannt und bezichtigt, Beweismittel und das Testament des Papstes unterschlagen zu haben. In Bezug auf die Aktivitäten der Vatikanbank hatte Papst Johannes Paul I. Bedenken geäußert und beabsichtigte, Korruption und Fehlverhalten innerhalb der Institution zu bekämpfen. Konkret beabsichtigte er, Kardinal Paul Casimir Marcinkus, den damaligen Präsidenten der Vatikanbank, von seiner Position abzusetzen.
David Anthony Yallop (27. Januar 1937 - 23. August 2018) war ein britischer Bestseller Autor, der vor allem über ungelöste Verbrechen schrieb. In seinem Buch „In Gottes Namen: Eine Untersuchung der Ermordung von Papst Johannes Paul I.“ (1984), stellte er die These auf, dass der plötzliche Tod von Papst Johannes Paul I. am 28. September 1978 kein natürlicher Tod war, sondern ein Mordkomplott innerhalb des Vatikans. Im Zuge kontroverser Debatten wurde sein Buch von Kritikern und der Kirche wiederholt als haltlose Verschwörungstheorie abgelehnt. Trotz dieser negativen Bewertungen erfuhr das Werk eine hohe Popularität und konnte sich über einen Zeitraum von 15 Wochen auf der Bestsellerliste der renommierten New York Times platzieren. Zudem wurden Übersetzungen in mehrere Sprachen vorgenommen und es kam zu mehrfachen Nachdrucken, wobei insgesamt über sechs Millionen Exemplare verkauft wurden.
Yallop stützt seine These auf eine überaus gründliche und umfassende Recherche und liefert eine Fülle von Zeugenaussagen, Beweisen, Indizien und Fakten, die ein komplexes und tiefgreifendes System von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb des Vatikans offenbaren. Insbesondere bezichtigt er den damaligen Sekretär des Vatikan Staates, Kardinal Jean Villot (11. Oktober 1905 - 9. März 1979), der als mächtiger Gegner von Johannes Paul I. galt, und den Leiter der Vatikanbank, Paul Marcinkus der Komplizenschaft zur Ermordung von Papst Johannes I.
Der Ambrosiano-Skandal
Im Juli 1982 geriet Marcinkus als damaliger Direktor der Ambrosiano Overseas, aufgrund seiner Verstrickungen in Finanzskandale ins Rampenlicht der europäischen Medien. Insbesondere der Zusammenbruch der Banco Ambrosiano, sorgte für großes Aufsehen. Marcinkus, der einige Jahre lang mit dem Finanzier Roberto Calvi, dem Vorsitzenden der Ambrosiano, verflochten war, hatte seinen Sitz auf den Bahamas.
Der Skandal um die Banco Ambrosiano und den ehemaligen Vorsitzenden Roberto Calvi, der im Juni 1982 ermordet unter der Blackfriars Bridge in London aufgefunden wurde, weitete sich immer weiter aus. Die Bank hatte Geschäfte mit dem Vatikan und dem damaligen Präsidenten der Vatikanbank, Paul Marcinkus, getätigt. Trotz der Verwicklung in den Skandal wurde Marcinkus jedoch nie wegen eines Verbrechens angeklagt. Bald darauf trat er als Leiter der Vatikanbank zurück, und ein Gremium von Laien übernahm die Kontrolle über die Bank.
Der Vatikan zahlte schließlich 145 Millionen Pfund in einem Vergleich mit den Gläubigern. Am 30. Oktober des Jahres 1990 legte Paul Marcinkus sein Amt im Vatikan nieder und kehrte in die Erzdiözese Chicago zurück. In der Folgezeit zog er nach Arizona, wo er als Hilfspriester in der Kirche St. Clemens von Rom in Sun City tätig war. Bis zu seinem Tod lehnte er es ab, über seine Rolle im Ambrosiano-Skandal zu sprechen. Erzbischof Marcinkus starb am 20. Februar 2006 im Alter von 84 Jahren an einer nicht näher genannten Ursache.
Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass gegen Kardinal Marcinkus bis zu seinem Tod keine Ermittlungen durchgeführt wurden, besonders bedeutend. Es bleibt jedoch die Frage, ob die Entscheidung ausschließlich auf seine diplomatische Immunität als Präsident der Vatikanbank zurückzuführen war, oder ob andere Faktoren bei der Entscheidung eine Rolle spielten.
Das Spiel um die Macht
Die Motivation von Sabrina Minardi, erst zwei Jahre nach dem Tod von Kardinal Marcinkus zur Polizei zu gehen und Informationen preiszugeben, lässt sich durch diese Analyse der Machtstruktur des verstorbenen Kardinals erklären. Minardi war sich der herausragenden Stellung von Marcinkus in der Hierarchie des Vatikans sowie seiner unbeschreiblichen Macht, die er innehatten, sehr bewusst. In den späten 70er Jahren war sie mit dem italienischen Fußball-Star Bruno Gordani verheiratet, doch im Jahr 1982 löste sie einen Skandal aus, als sie Gordani verließ und sich stattdessen für allseits bekannten Mafioso De Pedis entschied.
Gemäß Minardi sei es ihr damaliger Freund De Pedis gewesen, der Emanuela entführte und der Auftrag dazu sei von Erzbischof Kardinal Paul Marcinkus gekommen. Minardi gab zu Protokoll, Orlandi zum ersten Mal in einem Auto gesehen zu haben, das von einem Mann aus De Pedis' Crew gefahren wurde. De Pedis habe sie darum gebeten, das Mädchen zum Haus ihrer Eltern in Torvaianica, einer kleinen Stadt am Stadtrand von Rom, zu bringen. Emanuela soll dort zehn Tage verbracht und meistens unter dem Einfluss von Drogen gestanden haben. Danach sei sie an einen Ort in Monteverde verlegt worden. Ein paar Tage später hätte Minardi Emanuela wieder gesehen, als De Pedis sie erneut bat, Emanuela zu einer Tankstelle im Vatikan zu bringen und dort zu übergeben. Dort behauptet Minardi, sei Emanuela von einem Priester in einem schwarzen Mercedes mit vatikanischem Nummernschild weggebracht worden.
Laut Minardi wurde Emanuela Orlandi entführt, um jemandem eine Nachricht zu übermitteln. De Pedis habe ihr gesagt, dass es Teil eines "Machtspiels" sei und behauptete, dass die Entführung im Gegenzug für die Hilfe des Erzbischofs beim Geldwäscheverfahren durchgeführt wurde. Minardi habe auch angegeben, das Geld selbst in Louis-Vuitton-Taschen an den Erzbischof geliefert zu haben.
Minardi behauptete ebenfalls, dass Orlandi von De Pedis getötet und in einem Sack in einem Betonmischer in Torvaianica versteckt wurde. Die Polizei stellte in der Vernehmung von Minardi einige Ungereimtheiten fest, insbesondere in Bezug auf Zeiträume. Es gibt jedoch einige präzise und detaillierte Details in ihren Aussagen, die darauf hindeuten, dass an der Geschichte durchaus etwas Wahres sein könnte.
So konnten zum Beispiel die Behörden bestätigten, dass De Pedis ein Haus in Monteverde hatte, dem Ort, den Minardi erwähnte. Unter dem Gebäude wurde eine Grotte entdeckt, in der Emanuela möglicherweise festgehalten wurde, jedoch konnten keine Beweise gefunden werden, die dies bestätigen. Minardi sprach auch von drei Männern, die an der Entführung beteiligt waren, und andere Zeugen bestätigten, dass diese Männer Teil von De Pedis' Bande waren. Eine mögliche Erklärung für die Inkonsistenzen in Minardis Aussagen könnte darin bestehen, dass ihr regelmäßiger Konsum von Drogen die Funktionsweise ihres Gedächtnisses beeinträchtigt und dazu geführt hat, dass sie einige Ereignisse ungenau erinnert oder falsch wiedergibt.
Revierkampf
Giancarlo Capaldo übernahm die Ermittlungen im Fall von Emanuela Orlandi im Jahr 2006, nachdem der ursprünglich zuständige Staatsanwalt Antonio Marini in den Ruhestand gegangen war. Capaldo leitete das Verfahren bis 2012 und führte zahlreiche Untersuchungen und Verhöre durch, um das Schicksal von Emanuela Orlandi aufzuklären.
Die Ermittlungen wurden jedoch aufgrund von Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Vatikan und der italienischen Justiz über die Zuständigkeit in diesem Fall eingestellt. Die vatikanische Justiz argumentierte, dass der Fall in den Zuständigkeitsbereich des Vatikans falle, da Orlandi Staatsbürgerin des Vatikans sei und das mutmaßliche Verbrechen auf vatikanischem Boden begangen worden sei. Die italienische Justiz hingegen betonte, dass das Verschwinden von Orlandi auf italienischem Territorium stattgefunden habe und dass die Zuständigkeit für den Fall deshalb bei den italienischen Behörden liegen sollte.
Die Uneinigkeit zwischen den beiden Justizsystemen führte immer wieder zu Verzögerungen der Untersuchungen und letztendlich zur Einstellung des Verfahrens. Es gab in der Folgezeit jedoch immer wieder Versuche, den Fall neu aufzunehmen und das Schicksal von Emanuela Orlandi aufzuklären, darunter auch durch Giancarlo Capaldo selbst, der sich auch nach seiner Entlassung aus dem Amt für die Wiederaufnahme des Verfahrens einsetzte.
Im Jahre 2007 sagte das ehemalige Mitglied der Magliana-Bande, Antonio Mancini, vor den Richtern der Staatsanwaltschaft in Rom aus. Er erzählte, dass De Pedis und einige Vertreter des Vatikans in die Affäre um Emanuela Orlandi verwickelt waren. Mancini berichtete, dass sich im Gefängnis zum Zeitpunkt des Verschwindens des 15-jährigen Mädchens das Gerücht verbreitete, dass die Magliana-Bande im Besitz von Emanuela sei und dass eines ihrer Mitglieder sie entführt habe.
Mancinis Aussagen wurden von Maurizio Abbatino bestätigt. Abbatino war ein Informant der Justiz und der Hauptankläger der Bande. Im Dezember 2009 hat er den stellvertretenden Staatsanwalt, der die Ermittlungen in Magliana leitet, informiert, dass De Pedis und seine Männer an der Entführung und Ermordung von Emanuela beteiligt waren und Verbindungen zu einigen Vatikanbeamten hatten.
Das vielsagende Grab
Im Jahr 2009 untersuchte die Staatsanwaltschaft Rom, warum De Pedis in der dem Vatikan gehörenden Basilika beigesetzt wurde. Laut dem ehemaligen Mitglied der Banda della Magliana, Antonio Mancini, war dies eine Belohnung für De Pedis für seine Rolle bei der Überzeugung anderer Mitglieder, die Aktionen der Bande gegen den Vatikan zu stoppen (einschließlich der Entführung von Orlandi), um die Rückgabe großer Geldbeträge zu erzwingen, die sie der Vatikanbank über Roberto Calvis Banco Ambrosiano geliehen hatten.
Im Zusammenhang mit dem Grab von Enrico De Pedis in der Basilika Sant'Apollinare gab es im Jahr 2012 geheime Verhandlungen zwischen Vertretern des Heiligen Stuhls und Giancarlo Capaldo, dem damaligen Staatsanwalt von Rom. Dabei wurden Domenico Giani, der Generalinspektor der Gendarmerie der Vatikanstadt, und sein Stellvertreter Costanzo Alessandrini als Abgesandte des Vatikans entsandt, um Capaldo zu bitten, das Grab von Enrico De Pedis in der Basilika Sant'Apollinare zu entfernen. Der Heilige Stuhl empfand es als "große Peinlichkeit", einen Verbrecher dort begraben zu haben.
Capaldo stimmte dem zu, forderte jedoch im Gegenzug Informationen über den Fall Orlandi. Zwei Tage später stimmten die Abgesandten des Vatikans dem Handel zu und boten an, Capaldo Dokumente mit den Namen der in den Fall verwickelten Personen zu übergeben. Doch Capaldo wollte mehr - zusätzlich zu den Dokumenten verlangte er Emanuela Orlandi selbst, tot oder lebendig.
Zwei Wochen später erklärten die Abgesandten des Vatikans, dass sie dem Austausch zustimmten, unter der Bedingung, dass der Anwalt der Familie Orlandi und die Medien eine Geschichte unterbreiten würden, die den Vatikan von jeglicher Verantwortung entlasten sollte.
Capaldo akzeptierte diese Bedingung jedoch nicht und gab am 2. April 2012 eine öffentliche Erklärung ab, in der er ankündigte, dass der Vatikan die Wahrheit über den Fall Orlandi kenne und dass er das Grab von De Pedis vorerst nicht öffnen werde. Am folgenden Tag wurde Giancarlo Capaldo seines Amtes enthoben und durch Giuseppe Pignatone ersetzt, der die Erklärung des Vatikans dementierte und die Öffnung des Grabes anordnete. Pignatone leitete die Ermittlungen im Fall Emanuela Orlandi bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2018.
Im Grab fanden die forensischen Ermittler den perfekt konservierten Körper von de Pedis in einem dunkelblauen Anzug mit Krawatte. Die Beisetzung des Verstorbenen De Pedis fand zunächst auf dem Friedhof von Verano statt, bevor sein Leichnam ungefähr zwei Monate später in die Krypta der Basilika Sant'Apollinare in Rom überführt wurde. Die Beisetzung in der Basilika Sant'Apollinare, die aufgrund eines Wunsches von De Pedis' Witwe beantragt wurde, erhielt trotz Abweichung vom Kirchenrecht die Genehmigung des Vikariats in Rom. Eine entsprechende Bescheinigung des Rektors der Basilika, Monsignore Piero Vergari, datiert auf den 6. März 1990, attestiert, dass De Pedis zu Lebzeiten ein großzügiger Wohltäter für die Armen war, die die besagte Basilika besuchten. Am 24. April 1990 erfolgte die feierliche Beisetzung des Leichnams von De Pedis, und die Schlüssel zur Pforte wurden sowohl seiner Witwe als auch dem Rektor der Kirche übergeben.
Bei der Untersuchung des Grabes von De Pedis wurden zudem etwa 200 Urnen mit Knochenresten aus zwei bis drei Jahrhunderten in einem anderen Raum der Krypta entdeckt. Nach der Exhumierung ergab eine forensische DNA-Analyse in Rom, dass Enrico De Pedis gar nicht mit seinen Brüdern Luciano und Marco De Pedis verwandt und sein rechtlicher Vater Antonio De Pedis nicht sein biologischer Vater war.
An ihrem Entführungstag fragte Emanuela Orlandi in Begleitung eines Mannes einen Verkehrspolizisten nach dem Weg zum Palazzo Borromini. Aufgrund der Personenbeschreibung des Polizisten ließ die Polizei damals ein Phantombild anfertigen. Später wurde eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen dieser Fahndungs-Skizze und Enrico De Pedis festgestellt.
Es lässt sich eine deutliche und überzeugende Verbindung zwischen der Entführung von Emanuela Orlandi, dem Vatikan und der Mafia feststellen. Daher ist es höchst unwahrscheinlich, dass der Papstattentäter Ali Ağca in die Entführung verwickelt war. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass der Vatikan und die Mafia absichtlich falsche Hinweise gestreut haben, um die wahren Hintermänner der Entführung zu verschleiern.
Die überwältigenden Indizien deuten darauf hin, dass sowohl der Vatikan als auch die Mafia vorsätzlich an der Vertuschung beteiligt waren. Außerdem ist bekannt, dass riesige Summen von Mafiageldern gewaschen und in der Vatikanbank verschoben wurden. Dies deutet auf eine enge Zusammenarbeit zwischen den drei Institutionen hin, die sich offensichtlich dunkler Machenschaften bedienen, um ihre Macht und ihren Einfluss zu erhalten. Vor allem Kinder scheinen in diesem mörderischen Spiel keinerlei Schutz zu genießen.
War die Entführung von Emanuela Orlandi wirklich ein Versuch der Magliana-Bande, ihr Geld zurückzufordern? Die Hintergründe dieser mysteriösen Tat werfen auch die Frage auf, warum der Vatikan solch exorbitante Summen benötigt und warum er sich dazu offenbar auch krimineller Quellen bedient.
Der Vatikan im Kampf gegen den Kommunismus
Die Antworten finden sich in verschiedenen Briefen von Roberto Calvi, dem damaligen Chef der Ambrosiano, der größten Privatbank Italiens in den 80er Jahren, an Papst Johannes Paul II. Ein Jahr vor dem Verschwinden von Emanuela schreibt Calvi: „Eure Heiligkeit, ich war es, der die Fehler und Verpflichtungen der früheren und heutigen Führung der Vatikan Bank geschultert hat. Viele möchten wissen, ob ich Finanzmittel für Solidarność oder sogar Waffen und Geld für andere Organisationen im Ostblock bereitgestellt habe. Eure Heiligkeit, nur durch ihr Eingreifen ist es noch möglich dieses Schreckgespenst dieses dunklen Punktes zu verjagen. Dankbar küsse ich den Fischerring und versichere ihnen meine treue Ergebenheit.“
In einem späteren Brief droht er dem Vatikan im Juni 1982, mit der Enthüllung, dass mit dem gestohlenen Geld die polnische Bewegung Solidarność (Deutsch: Solidarität) finanziert wurde. Zwölf Tage später, am 18. Juni 1983 wird Roberto Calvi in London tot aufgefunden. Nach Calvis gewaltsamen Tod fand man Briefe, in denen er schrieb, er habe mehr als eine Milliarde Dollar an Solidarność überwiesen.
2009 erklärte Lech Walesa, ehemaliger polnischer Präsident und Gründer der Gewerkschaftsbewegung Solidarność, im Gespräch mit einem italienischen Staatsanwalt, dass er und seine Mitstreiter während ihrer Arbeit unter ständiger Überwachung des polnischen und sowjetischen Geheimdienstes standen. Aus diesem Grund mussten sie sich von allen Aktivitäten fernhalten, die von den Diensten gegen sie hätten genutzt werden können. Die karitativen Werke wurden in dieser Zeit vollständig von der Kirche übernommen, die nicht unter Überwachung stand. Da kirchliche Sendungen von Polizeikontrollen nicht betroffen waren, wurde die Finanzierung auf diesem Weg abgewickelt. Der Vatikan nutzte Mafiageld um den Kommunismus zu bekämpfen.
Die Ambrosiano Bank
Die Banco Ambrosiano wurde 1896 in Mailand von Giuseppe Tovini, einem katholischen Rechtsanwalt und Bankier aus Valle Camonica, gegründet und nach dem Heiligen Ambrosius, dem Erzbischof der Stadt aus dem vierten Jahrhundert, benannt. Tovini wollte eine katholische Bank als Gegengewicht zu den "laizistischen" Banken Italiens gründen und verfolgte das Ziel, "moralischen Organisationen, frommen Werken und religiösen Einrichtungen mit karitativen Zielen zu dienen". Die Bank wurde als "Priesterbank" bekannt; einer ihrer Vorsitzenden war Franco Ratti, ein Neffe von Papst Pius XI.
In den 1960er Jahren begann die Bank, ihr Geschäft zu erweitern, und eröffnete 1963 eine Holdinggesellschaft in Luxemburg, die später als Banco Ambrosiano Holding bekannt wurde. Diese stand unter der Leitung von Carlo Canesi, damals ein leitender Angestellter und ab 1965 Vorsitzender. Sein Stellvertreter war Roberto Calvi, dessen Vater Manager in der Banca Commerciale Italiana war (eine der größten Banken Italiens). Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Roberto Calvi zunächst in derselben Bank, wechselte aber 1947 zur Banco Ambrosiano. Er wurde gefördert von Michele Sindona, einem führenden Teilhaber, und von Paul Marcinkus, Direktor der Vatikanbank ab 1971.
Im Jahr 1971 wurde Calvi Generaldirektor und 1975 zum Vorsitzenden ernannt. Calvi baute die Interessen von Ambrosiano weiter aus; dazu gehörten die Gründung einer Reihe von Offshore-Gesellschaften auf den Bahamas und in Südamerika, eine Mehrheitsbeteiligung an der Banca Cattolica del Veneto und Mittel für den Verlag Rizzoli zur Finanzierung der Zeitung Corriere della Sera (was Calvi hinter den Kulissen die Kontrolle zugunsten seiner Partner in der Freimaurerloge P2 ermöglichte). Calvi war auch mit dem amerikanischen Erzbischof Paul Marcinkus befreundet, dem Präsidenten des Istituto per le Opere di Religione (der offizielle Name der Vatikanbank), und bezog sowohl das IOR als auch Marcinkus in seine Geschäfte ein.
Die Ambrosiano-Bank finanzierte politische Parteien in Italien sowie die Somoza-Diktatur in Nicaragua und die sandinistische Opposition. Auch die Solidarność-Bewegung in Polen erhielt Gelder von der Bank. In Lugano wurde die Banco del Gottardo, die 1957 gegründet wurde und Dr. August Gansser-Burckhardt als Präsident hatte, 1963 zum Schweizer Zweig der Banco Ambrosiano mit Schweizer Managern und einer 45%igen Beteiligung indirekt über die Banco Ambrosiano Holding S.A. in Luxemburg, an der die Banco Ambrosiano 70% der Anteile hielt. Die Banco del Gottardo war ein zentrales Element im Offshore-System von Calvi mit Niederlassungen in Nassau (Bahamas) und Luxemburg in den 1970er Jahren. Nach dem Scheitern der Banco Ambrosiano übernahm die Sumitomo Bank im Jahr 1984 die Gotthard Bank und fügte 1994 die Niederlassung in Monaco hinzu.
Calvi nutzte sein weitverzweigtes Netzwerk von Banken und Unternehmen im Ausland, um Gelder aus Italien zu transferieren, Aktienkurse zu manipulieren und massive ungesicherte Kredite zu erhalten. Im Jahr 1978 erstellte die Banca d'Italia, die italienische Zentralbank, einen Bericht über Ambrosiano, in dem ein zukünftiges Desaster vorausgesagt wurde, was zu strafrechtlichen Ermittlungen führte. Zudem war auch Roberto Calvi Mitglied bei Propaganda Due und unterhielt eine enge Beziehung zu Licio Gelli. Calvi nutzte diese Verbindung, um illegal Gelder aus der Banco Ambrosiano abzuzweigen und in dubiose Geschäfte und Aktivitäten zu investieren, einschließlich der Unterstützung von politischen Gruppen und Organisationen in Italien und anderen Ländern. Es gab auch Gerüchte, dass Calvi versuchte, Gelder für die Vatikanbank zu waschen, obwohl diese Vorwürfe nie bewiesen werden konnten.
Propaganda Due
Während der Untersuchungen zu Michele Sindonas angeblicher Entführung in Mailand im Jahr 1981 stießen die Ermittler auf eine Liste von 962 Mitgliedern der Freimaurerloge Propaganda Due, die sich im Büro des Meisters vom Stuhl, Licio Gelli, befand. Diese Liste enthielt die Namen von 44 Parlamentarier, 3 Ministern, 5 Staatssekretären, zahlreichen hohe Parteifunktionären und Beamten, Dutzenden Generälen und anderen hohe Militärs, die Spitzen der Geheimdienste und der Finanzpolizei, mehrere Diplomaten, Richter und Staatsanwälte, einflussreiche Journalisten, Verleger und diverse Unternehmer, unter ihnen Silvio Berlusconi, sowie Sindona und Roberto Calvi. Da die Nummerierung der Liste bei 1600 beginnt, wird vermutet, dass weit über 1000 Namen noch nicht bekannt sind. Die Enthüllung löste einen der größten Skandale in der Nachkriegsgeschichte Italiens aus. Trotzdem haben die Italiener Silvio Berlusconi danach dreimal zum Premierminister gewählt, obwohl auch er auf dieser Liste stand.
Die Razzia führte zur Beschlagnahme von Tausenden von Dokumenten und Aufzeichnungen, die den illegalen Aktivitäten der Loge und ihrer Mitglieder zugeschrieben wurden. Viele der Dokumente enthielten auch Informationen über die Verbindungen von Propaganda Due zu verschiedenen politischen Parteien und Regierungsbeamten.
Die Untersuchungsrichter Gherardo Colombo und Giuliano Turone präsentierten dem Ministerpräsidenten Arnaldo Forlani das brisante Material. Allerdings waren auch dessen Sekretär, der Justizminister und andere Mitglieder der Regierung Teil der Loge, weshalb Forlani zunächst keine Maßnahmen ergriff. Auch in den Medien fand der Skandal anfangs wenig Beachtung. Die Mailänder Richter wurden von ihren Vorgesetzten dazu gedrängt, die Untersuchung einzustellen.
Unter dem Druck des Parlaments sah sich Forlani schließlich am 20. Mai 1981 gezwungen, die Liste zu veröffentlichen. Plötzlich wurde von einem "Skandal der Skandale" gesprochen und aufgrund seiner Vertuschungsversuche musste Forlani sechs Tage später zurücktreten.
Am 10. Juni 1982 verließ Calvi fluchtartig Italien, nachdem die Banco Ambrosiano, die er immer noch als Präsident leitete, Konkurs anmelden musste. Die Schulden der Bank wurden auf bis zu 1,2 Milliarden US-Dollar geschätzt. Am 13. Juni 1982 bezog Calvi ein Hotelzimmer in Chelsea. Er wurde am 18. Juni 1982 in der City of London unter einer Brücke erhängt aufgefunden. Die Zeiger seiner nicht wasserdichten Armbanduhr waren auf 1:52 Uhr stehen geblieben. Sein Tod wurde von der britischen Justiz zunächst als Selbsttötung klassifiziert. Am selben Tag, an dem Calvis Leiche gefunden wurde, stürzte seine Sekretärin Graziella Corrocher aus einem Fenster der Bank in Mailand in den Tod.
Im selben Jahr wurde den Offshore-Beteiligungen der Geldhahn zugedreht, was zu deren Zusammenbruch führte, und im August wurde die Bank durch die Nuovo Banco Ambrosiano unter Giovanni Bazoli ersetzt. Papst Johannes Paul II. versprach volle Transparenz in Bezug auf die Verbindungen der Bank zum Vatikan und holte Laienbanker, darunter den deutschen Finanzexperten Hermann Abs, ins Boot - ein Schritt der von vielen kritisiert wurde, da Hermann Abs von 1938 bis 1945 als Top-Bankier für Nazi-Deutschland tätig war. Es gab viel Streit darüber, wer die Verantwortung für die Verluste der Offshore-Gesellschaften der alten Ambrosiano übernehmen sollte, und der Vatikan erklärte sich schließlich bereit, eine beträchtliche Summe zu zahlen, ohne jedoch die Haftung übernehmen zu müssen.
12 Jahre später, im Jahr 1994, wurden im Zusammenhang mit dem Fall der Banco Ambrosiano auch der ehemalige sozialistische Ministerpräsident Bettino Craxi, der Leiter von Propaganda Due, Licio Gelli, und der ehemalige Justizminister Claudio Martelli angeklagt. Im April 1998 bestätigte der Kassationsgerichtshof eine 12-jährige Haftstrafe für Licio Gelli im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Ambrosiano. 1981 war Gelli einer der wenigen Italiener, die zur Vereidigung von Präsident Reagan eingeladen wurden. 1996 wurde Gelli mit Unterstützung von Mutter Teresa und Naguib Mahfouz als Kandidat für den Literaturnobelpreis nominiert.
Emanuela Orlandi in London?
Im Jahr 2017 erlangte der italienische Journalist Emiliano Fittipaldi durch den Zugang zu geheimen Dokumenten des Vatikans, die während des Vatikan-Leak-Skandals 2014 gestohlen worden waren, Kenntnis von einem Dokument, welches von der Tageszeitung La Repubblica veröffentlicht wurde. Laut dem Dokument soll der Vatikan zwischen 1983 und 1997 rund 483 Millionen Lire für den Unterhalt von Emanuela Orlandi ausgegeben haben. Das besagte fünfseitige Manuskript ist auf den 28. März 1998 datiert und listet Ausgaben für Schule, Unterkunft, Verpflegung und Arztrechnungen von 1983 bis 1997 auf, darunter auch Ausgaben für "Ermittlungen".
Das Schreiben soll von Kardinal Lorenzo Antonetti, welcher vom 23. Februar bis zum 5. November 1998 der Güterverwaltung des apostolischen Stuhls vorstand, an mehrere Mitarbeiter des Vatikans gesendet worden sein. Demnach „fand“ der Vatikan das offenbar entführte Mädchen und „überführte“ sie nach London, wo sie in einer religiösen Unterkunft für Mädchen gelebt haben soll. Laura Sgrò, die Anwältin der Familie Orlandi bestätigte in einem Interview mit Euronews, dass die Informationen in dem von Fittipaldi veröffentlichten Dokument mit denen, die die Familie Anfang des Jahres erhielt, übereinstimmen.
Es gab zuvor schon Hinweise, dass Emanuela in London versteckt sein könnte. Im Jahr 2011 behauptete ein anonymer Anrufer während einer Fernsehsendung in Italien, der sich als ehemaliger SISMI-Agent (militärischer Nachrichten- und Sicherheitsdienst Italiens) ausgab, dass Emanuela noch am Leben sei und in einer psychiatrischen Klinik in London festgehalten werde. Er behauptete auch, dass die Entscheidung, Emanuela zu entführen, aufgrund von Wissen ihres Vaters über Geldwäsche, an der das IOR und die Banco Ambrosiano beteiligt waren, getroffen wurde, was die Geldtheorie unterstützt.
Verbindung zum Kommandantenmord
Das von Fittipaldi veröffentlichte Dokument, welches auf den 28. März 1998 datiert ist, fällt mit einer höchst denkwürdigen Zeit im Vatikan zusammen, welche von einem schockierenden Ereignis geprägt war - dem Mord an dem frisch ernannten Kommandanten der Schweizer Garde am 4. Mai 1998. Die zeitliche Nähe zwischen diesen beiden Ereignissen wirft die Frage auf, ob es sich hierbei um einen bloßen Zufall handelt oder ob möglicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Fällen besteht. Das Dokument offenbart eine weitere überraschende Korrelation. Sollte das Schriftstück echt sein, so deckt die Dienstzeit von Kommandant Buchs als Leiter der Schweizer Garde (dem Vorgänger von Estermann) das gesamte Verbrechen an Emanuela Orlandi ab - angefangen von ihrer Entführung im Juni 1983 bis hin zu ihrer „Überführung in den Vatikan“ im Jahr 1997.
Am Abend des 4. Mai 1998 wurden in der Kaserne der Schweizer Garde die leblosen Körper von drei Personen entdeckt: Alois Estermann, der erst 10 Stunden zuvor zum Kommandanten der vatikanischen Armee ernannt worden war, seine Frau Gladys und der Korporal Cedric Tornay. Es war ein grausames Ereignis, das der Heilige Stuhl eiligst zu den Akten legte, ohne die italienischen Behörden einzubeziehen.
Die Berichte in den Medien überschlugen sich. Estermann soll der berühmte Stasi-Spitzel mit dem Codenamen "Werder" gewesen sein, der den Heiligen Stuhl infiltriert hatte, um die Geheimnisse des polnischen Papstes und seiner dubiosen rechten Hand, Paul Marcinkus, zu stehlen - von Emanuela Orlandi bis hin zur versteckten Finanzierung der Solidarność. Ebenfalls unter die Lupe genommen wurde Gladys Meza Romero, die Frau des Kommandanten. Die Venezolanerin Gladys hatte Theologie studiert und war 1981 nach Italien gekommen, um sich zu spezialisieren und als Kulturattaché in der Botschaft zu arbeiten. Die gebürtige Venezolanerin war 1982 Frau Estermann geworden, in dem Jahr, in dem Estermann berühmt wurde, weil er auf das Papamobil sprang, um Papst Johannes Paul II. vor Schüssen zu schützen.
Roland Buchs wuchs in Düdingen auf. Er absolvierte nach der Handelsmatura eine Ausbildung zum Bankfachmann. Am 1. Juni 1976 trat er im Rang eines Majors in die Päpstliche Schweizergarde ein. Am 25. November 1982 wurde er von Papst Johannes Paul II. zum Kommandanten der Schweizergarde ernannt sowie zum Oberst befördert. Buchs bekleidete das Amt des Kommandanten bis zum 29. November 1997 und wurde vom Papst Johannes Paul II. persönlich als Gardekommandanten verabschiedet.
Es liegt auf der Hand, dass Kommandant Buchs zumindest über einen Teil der Entführung von Emanuela informiert gewesen sein muss. Anders ist ein Verbrechen von solchem Ausmaß nicht zu vertuschen. Ohne seine Kenntnis und mögliche Mitwirkung wäre es unmöglich gewesen, die Entführung und den Tod von Emanuela Orlandi vor der Öffentlichkeit zu verbergen.
Zwei Tage nach der bestialischen Ermordung seines Nachfolgers wurde Buchs am 6. Mai 1998 erneut zum Kommandanten ernannt und bekleidete dieses Amt bis zum 16. August 1998. Danach wurde er Chef der Sektion Schutzorganisation des Bundessicherheitsdienstes in Bern. Am 31. Mai 2005 wurde er pensioniert. In der Armee bekleidete Buchs den Rang eines Hauptmanns. Er war verheiratet und hatte fünf Kinder. Er starb am 12. November 2022.
Alois Estermann, der Nachfolger von Kommandant Buchs an der Spitze der Schweizer Garde, galt als enger Vertrauter des ehemaligen Papstes Johannes Paul II. Während des Attentats auf Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1981 stand Estermann als Teil der Sicherheitskräfte im Einsatz. Er gehörte zu der Gruppe, die den Papst nach dem Attentat aus dem Petersplatz in den Vatikan begleiteten. Der 43-jährige Kommandant war Mitglied der streng katholischen Bewegung Opus Dei, während seine venezolanische Ehefrau Gladys offenbar den Freimaurern nahestand.
Anfang Februar 1999, neun Monate nach dem Gewaltakt, stellt Gianluigi Marrone, der Untersuchungsrichter des vatikanischen Tribunals, seinen Abschlussbericht vor. Er listet zehn gerichtsmedizinische Gutachten, fünf Rapporte der Spezialpolizei, 38 Verhöre von informierten Personen sowie zahlreiche Auskünfte von Amtsstellen auf. Am Abend des 4. Mai 1998 wurden der neu ernannte Kommandant Alois Estermann und seine Frau Gladys tot in ihrer Wohnung im Vatikan aufgefunden.
Auch der Vizekorporal Cédric Tornay, der angeblich aus Rache über eine verweigerte Auszeichnung seinen Kommandanten ermordet und sich danach selbst erschossen haben soll, wurde tot aufgefunden. Die Glaubwürdigkeit der vom Vatikan präsentierten Darstellung wurde aufgrund von diskrepanten und inszenierten Merkmalen am Tatort sowie widersprüchlichen Beweisen rasch in Frage gestellt. Es wurden Verdächtigungen laut, dass der Vatikan Beweise gefälscht oder vertuscht hat.
Tornays Mutter akzeptiert die offizielle Version nicht und hat den Leichnam ihres Sohnes von einem angesehenen Gerichtsmediziner aus Lausanne untersuchen lassen, kurz nachdem er in die Schweiz überführt wurde. Auch den Abschiedsbrief, der ihr vom Vatikan überlassen wurde, obwohl er ein wichtiges Beweisstück ist, lässt sie auf graphologische Merkmale untersuchen. Sie bemängelt, dass Anschrift, Anrede und Formulierungen nicht zu ihrem Sohn passen und die Unterschrift fehlt. Das verwendete Briefpapier steht zudem nur dem Staatssekretariat des Vatikans zur Verfügung und nicht einem Schweizergardisten.
Schweizer Experten haben durch ihre Untersuchungen die vatikanische Darstellung von Tornays Suizid und den Schussverlauf widerlegt. Nach ihren Erkenntnissen hätte das Projektil beide Halswirbel zersplittert, was jedoch nicht der Fall war. Eine zweite Obduktion ergab, dass Tornays Kopf zum Zeitpunkt des Schusses nach hinten gelehnt war, was ein weiteres Indiz gegen die spärlichen Angaben des Vatikans darstellt. Darüber hinaus wurde in Tornays Lunge Blut gefunden, das vom Bruch des Felsenbeins stammte, was darauf hindeutet, dass er eine traumatische Kopfverletzung erlitten hatte, die zu Bewusstlosigkeit führte. Die Behauptung, er habe sich nach dieser Verletzung selbst erschossen, ist jedoch vollständig auszuschließen.
Die Felsenbeinpyramiden (Os petrosum) sind die härtesten Knochen und gehören zu den komplexesten anatomischen Strukturen des menschlichen Schädels. Sie befinden sich direkt hinter den Ohren und beherbergen die Hör-und Gleichgewichtsorgane sowie zahlreiche Nerven, darunter den Gesichtsnerv, der für die Versorgung der Gesichtsmuskeln zuständig ist. Durch den Bruch des Felsenbeins wurden auch die Nasennebenhöhlen verletzt, was zu Blutungen im Bereich des Innenohrs und der Nasennebenhöhlen führte. Das Blut gelangte durch die Nasenatmung über die Nasennebenhöhlen und die Luftröhre in die Lunge.
Darüber hinaus deuten ausgeschlagene Zähne darauf hin, dass ihm die Waffe gewaltsam in den Mund gerammt wurde. Der Felsenbeinbruch führte zu einem Trismus III. Grades, einem tonischen Kaumuskelkrampf mit Kieferklemme, deshalb konnten der oder die Täter Tornays Mund nicht öffnen. Im Zuge der Untersuchungen wurde zudem festgestellt, dass die Austrittswunde am Hinterkopf lediglich einen Durchmesser von 7 mm aufwies, während das Geschoss ein Kaliber von 9 mm hatte.
Die Mutter kämpft weiter, verlangt Akteneinsicht, weist auf Ungereimtheiten hin. Es bleibt undurchsichtig, solange der Vatikan seine Akten nicht offenlegt. 2019 beantragt letztmals die italienische Anwältin Laura Sgrò Akteneinsicht beim vatikanischen Gericht. Vergeblich. Roma locuta causa finita – Rom hat entschieden, die Sache ist erledigt. (Ein Rechtsgrundsatz, der aus dem Kirchenrecht stammt: Die Entscheidung der höchsten Instanz - des Papstes - ist stets rechtskräftig, es verbleiben keine Rechtsmittel (und kein Raum für weitere Diskussionen). Wer etwas zu verbergen hat, hat auch etwas zu befürchten.
Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche
Im Jahr 2005 wurde Kardinal Ratzinger zum Papst gewählt und versprach einen Neuanfang für eine Kirche, die bereits tief in Skandale verstrickt war. Seine erste große Herausforderung bestand darin, gegen den sexuellen Missbrauch vorzugehen, und er versprach entschlossenes Handeln. Schon als Kardinal hatte Ratzinger den Schmutz innerhalb der Kirche verurteilt. Er betonte, dass nicht die Menschen außerhalb die Kirche beflecken würden, sondern die Kirche sich selbst beschmutze. Aufgrund seiner 24-jährigen Leitung der Glaubenskongregation wusste er viel über die dunklen Machenschaften innerhalb der Kirche. Unzählige Berichte über schwerwiegende Missbrauchsfälle waren über seinen Schreibtisch gegangen. Als Papst hatte er nun die Gelegenheit, den Opfern endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Vor allem ein Fall verlangte nach entschiedenem Handeln.
Einige Kilometer außerhalb Roms befindet sich eine renommierte Hochschule, die von einem der wohlhabendsten Orden der katholischen Kirche, den Legionären Christi, geleitet wird. Dieser Orden erstreckt sich über 21 Länder und verfügte im Jahr 2016 laut der Tageszeitung El País über ein Vermögen von beeindruckenden 43,6 Milliarden US-Dollar. Doch hinter dem Glanz und dem Reichtum verbirgt sich eine düstere Geschichte. Der Gründer des Ordens war Pater Marcial Maciel Degollado. Der Orden präsentierte Marcial als charismatischen Führer, doch bereits während seiner Zeit als Glaubenspräfekt waren Kardinal Ratzinger Hinweise zugetragen worden, dass Marcial selbst ein Täter des sexuellen Missbrauchs von Kindern war. Der Fall Marcial stellt zweifellos eines der dunkelsten Kapitel in der jüngeren Geschichte der Kirche dar.
Pater Juan Vaca, der als Junge in einem Knabenseminar von Pater Marcial erzogen und von diesem sexuell missbraucht worden war, hatte einige der Beweise gesammelt, die Kardinal Ratzinger vorgelegt wurden. Pater Vaca musste mit ansehen, wie Pater Marcial auch zahlreiche andere Jungen sexuell missbrauchte. Jahre später, als er selbst bereits Priester war, verfasste Vaca einen Bericht über die vielen Missbrauchsfälle durch Pater Maciel und sandte ihn an den Vatikan. Doch eine Antwort blieb aus, und seine schmerzhaften Enthüllungen wurden ignoriert.
Im Jahr 1999 begann Kardinal Josef Ratzinger, damals Präfekt der Glaubenskongregation, eine Untersuchung nach kanonischem Recht. Diese Untersuchung wurde jedoch im Jahr 2002 aufgegeben. Laut Aussagen des Journalisten Jason Berry übte Kardinal Angelo Sodano Druck auf Kardinal Ratzinger aus, um diese Untersuchungen einzustellen. Kardinal Sodano wurde langjährig von Pater Maciel mit Geld und Gefälligkeiten begünstigt. Interessanterweise lobte Sodano weiterhin die Legionäre Christi, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits davon wusste, dass Pater Maciel mehrere Frauen und Kinder hatte.
Anfang Februar 2009, ein Jahr nach dem Tod von Maciel, wurde öffentlich bekannt, dass er eine Beziehung zu einer Frau hatte und Vater einer Tochter war. Inzwischen wurde die Vaterschaft mehrerer Kinder bestätigt. Die Legionäre Christi veröffentlichten eine Presseerklärung, in der sie bestätigten, dass Pater Marcial Maciel Degollado. seit den 1970er Jahren ein geheimes Doppelleben führte und Beziehungen zu zwei Frauen unterhielt, aus denen mehrere Kinder hervorgingen. Im Jahr 2010 erhob ein leiblicher Sohn von Maciel den schweren Vorwurf des inzestuösen sexuellen Kindesmissbrauchs gegen seinen eigenen Vater. Die erste Missbrauchshandlung war ein Vergewaltigungsversuch, als er gerade einmal 7 Jahre alt war. Auch sein Halbbruder, ein adoptierter Sohn Maciels aus einer früheren Beziehung der Mutter, erhob Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs gegen seinen Stiefvater.
Über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten hinweg schrieb Pater Vaca unzählige Briefe, doch es geschah nichts. Gleichzeitig wuchs der Einfluss der Legionäre Christi und der Vatikan verehrte Pater Maciel weiterhin als hoch angesehene Persönlichkeit und engen Vertrauten von Papst Johannes Paul II. Der Papst pries Marcial als herausragenden Jugendführer. Für Pater Vaca war das Maß voll. Wenn Papst Johannes Paul II. Freundschaft mit einem pädophilen Kinderschänder und Verbrecher pflegte, dann war für ihn das Ende erreicht.
Die Opfer von Marciel traten mutig an die Öffentlichkeit. Kardinal Ratzinger war verantwortlich für die Untersuchung der Missbrauchsfälle, doch er blockierte Fragen und scheute sich vor Antworten. Aufgrund der öffentlichen Unterstützung von Johannes Paul II. für Maciel hatte Ratzinger wenig Handlungsspielraum. Erst kurz vor seiner Wahl zum Papst leitete er endlich eine Untersuchung ein. Als Papst verbannte er Pater Maciel jedoch nicht aus der Priesterschaft, wie dies bei anderen Priestern geschah. Stattdessen lud er ihn lediglich ein, den Rest seines Lebens im Gebet und der Buße zu verbringen.
Im Jahr 2008 verstarb Pater Maciel in den USA, nachdem er aus Rom geflohen war. Als der Vatikan seinen Tod bekanntgab, wurde kein einziges Wort über Maciels Verbrechen verloren. Keine Entschuldigung für seine Opfer. Während der Amtszeit von Papst Benedikt wurde das volle Ausmaß der Missbrauchsfälle und der Vertuschung deutlich. Neben Pater Maciel wurden tausende andere Priester weltweit des sexuellen Missbrauchs von Kindern, die ihnen anvertraut waren, überführt. Papst Benedikt entschuldigte sich öffentlich, doch der Missbrauch setzte sich fort.
Die Legionäre Christi wurden oft als sektiererisch und fundamentalistisch beschrieben. Im Jahr 2014 veröffentlichte der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes einen Bericht, der kritisierte, dass einige katholische Organisationen Jugendliche nach ihrer Rekrutierung zunehmend von ihren Familien entfremdeten und von der Außenwelt isolierten und benannte explizit die Legionäre Christi. Diese Organisation strebt heimlich nach politischer Macht und Einflussnahme in der Gesellschaft und verfügt über ein weitreichendes Netzwerk von Verbindungen zu politischen und gesellschaftlichen Vertretern. Der Gründer, Pater Maciel, vollzog persönlich die Trauung von Carlos Slim Helu, einem der reichsten und einflussreichsten Männer der Welt. Pater Maciel unterstützte die politische Wende in Polen durch Geldgeschenke an Papst Johannes Paul II. und dessen damaligen Sekretär in Polen, Stanisław Dziwisz.
Emanuela ist im Himmel
Kurz nach seiner Wahl im Jahr 2013 traf Papst Franziskus die Familie Orlandi nach einer Messe und sagte: "Emanuela ist im Himmel". Diese Aussage deutet auf den Tod von Emanuela hin. Für die Familie Orlandi ist dies ein Hinweis darauf, dass der Heilige Stuhl über das Schicksal ihrer Tochter und Schwester Bescheid weiß, obwohl der Vatikan jahrelang behauptete, nicht in den Fall verwickelt zu sein. Pietro Orlandi bat mehrmals um ein Treffen mit dem Papst, um mehr Informationen zu erhalten, aber der Vatikan schwieg beharrlich und gab keine Antwort.
Ein weiteres Grab
Im Sommer 2018 erhielt die Familie Orlandi den letzten in einer langen Reihe von anonymen Hinweisen: Ein Foto einer Engelsskulptur und die Anweisung, "dorthin zu schauen, wohin der Engel schaut". Die Nachricht führte die Familie zu den Gräbern von Sophie zu Hohenlohe-Bartenstein und Charlotte Friederike zu Mecklenburg auf dem Teutonenfriedhof neben dem Petersdom. Im Juli 2019 wurde dem Antrag auf Durchsuchung der auf der exterritorialen Besitzung des Heiligen Stuhls liegenden Grabstätte stattgegeben. Die Gräber waren zuletzt im Jahr 2010 bei einer Renovierung von Steinmetzen geöffnet worden.
Am 11. Juli 2019 wurden die Gräber geöffnet, aber es wurden keine menschlichen Überreste gefunden, auch nicht von den beiden Frauen, die angeblich dort begraben waren. Nach der erfolglosen Suche berief sich Pietro Orlandi in mehreren Interviews auf die Aussage von Francesca Chaouqui, die ihn Tage vor der Öffnung der Gräber angerufen und vorausgesagt hatte, dass zwei leere Gräber gefunden werden würden. Chaouqui war Mitglied der Prüfungskommission COSEA, die von Papst Franziskus eingesetzt wurde, um die wirtschaftlichen Abläufe und Finanzen des Vatikanstaates zu untersuchen. Das Gremium war auch für die Vatikanbank IOR zuständig. Sie war die einzige weibliche Protagonistin in der Vatileaks-2.0-Affäre.
Nur zwei Tage später berichtete der Vatikan jedoch von einem Fund: Auf der Suche nach einem Ort, an dem die sterblichen Überreste aus den leeren Gräbern gebracht worden sein könnten, stießen die Ermittler auf zwei geheime Beinhäuser unter dem Fußboden des deutschen Priesterkollegs. Die Räume unter einer Falltür wurden sofort nach ihrer Entdeckung versiegelt. Am 20. Juli 2019 wurde ein Untersuchungstermin anberaumt. Da in den Kammern tausende Knochen gefunden wurden, wurde das Ermittlungsverfahren nach dem Fund erneut eröffnet. Eine morphologische Untersuchung der Gebeine ergab, dass keiner der Knochen aus dem 20. Jahrhundert stammte. Ein von der Familie Orlandi bestellter Experte bezweifelte die vatikanischen Angaben und forderte weitere Untersuchungen an etwa 70 Knochen. Dies wurde jedoch abgelehnt, da laut Vatikansprecher Matteo Bruni auch diese Knochen "Zeichen sehr antiker Datierung" aufwiesen.
Erste vatikanische Untersuchung eingeleitet
Die italienische Staatsanwaltschaft hat mehrere Male ermittelt und das Verfahren zuletzt im Oktober 2015 ergebnislos eingestellt. Am 9. Januar 2023 verkündete der Vatikan, 40 Jahre nach der Entführung, dass er den Fall der entführten Emanuela Orlandi nun doch endlich untersuchen will.
Der Vatikan handelt immer erst dann, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht. Die im Oktober 2022 veröffentlichte Netflix Doku-Serie mit dem Titel „Vatican Girl: The Disappearance of Emanuela Orlandi“ hat Millionen Menschen weltweit erreicht und das Schicksal von Emanuela und die dunkle Seite des Vatikans erneut in das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit gerückt. Nun muss der Vatikan handeln.
Papst Franziskus ernannte den Professor für Strafprozessrecht an der Universität von Kalabrien, Alessandro Diddi, zum Chefankläger und Leiter der Untersuchung. Zudem wurde Settimio Carmignani Caridi, Dozent für Kirchenrecht an der Universität Rom Tor Vergata und Professor für Vatikanrecht an der Universität LUMSA zum neuen beigeordneten Strafverfolger ernannt.
Anfang 2023 nahm nun der neue vatikanische Staatsanwalt Alessandro Diddi Ermittlungen auf, im Auftrag von Papst Franziskus. Es sei der starke Wunsch des Papstes und von Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin, vorbehaltlos Klarheit zu schaffen, erklärte Diddi in einem Interview. Ihm sei maximale Handlungsfreiheit gewährt worden, mit der Auflage, nichts zu verschweigen.
In diesem Zusammenhang führte der Staatsanwalt des Vatikans am 12. April 2023 ein achtstündiges Gespräch mit Pietro Orlandi und seiner Rechtsanwältin. Orlandi gab im Vorfeld an, Dokumente und potenzielle Zeugen aus eigenen Ermittlungen zur Verfügung zu stellen. Im Verlauf des Gesprächs enthüllte Orlandi den Besitz eines Briefes aus dem Jahr 1993 von George Carey, dem damaligen Erzbischof von Canterbury, an Kardinal Ugo Poletti. Der Brief erwähnt Emanuela Orlandi und schlägt vor, dass ein persönliches Treffen zwischen Carey und Poletti stattfinden sollte, um die Angelegenheit zu besprechen. Der Brief wurde an die gleiche Adresse in London geschickt wie jene im 2017 geleakten Dokument, welches behauptet, dass Orlandi unter der Aufsicht des Vatikans in London gelebt hat. Dieser Brief erhöht die Glaubwürdigkeit der Theorie, dass Emanuela nach ihrer Entführung möglicherweise nach England gebracht wurde.
Orlandi spielte auch ein Tonband ab, welches er nach dem Treffen im Vatikan in einer Talkshow präsentierte. Das Tonband enthält schwere Vorwürfe gegen Johannes Paul II. und stellt ihn in direkte Verbindung mit dem Verschwinden von Emanuela. Der Vorwurf stammt von einem Mann, der dem organisierten Verbrechen nahestehen soll. Orlandi deutete im Fernsehen an, dass Johannes Paul II. (1978 bis 2005) in das Verschwinden Emanuelas verwickelt gewesen sei und rückte den verstorbenen Papst in die Nähe von organisiertem Verbrechen.
Die Aussage sorgte offenbar für ein Beben im Vatikan. Orlandi erzählte anschließend, ihm sei von abendlichen Ausflügen des Papstes berichtet worden. Gemeinsam mit zwei polnischen "Monsignore-Freunden" soll dieser manchmal herumgefahren sein, weil er aufgrund des schweren Pontifikats "etwas Luft holen musste". Und, so Orlandi raunend, Johannes Paul II. sei sicher nicht durch die Stadt gezogen, "um Häuser zu segnen".
Der normalerweise schweigsame Mediendirektor des Vatikans, Andrea Tornielli, veröffentlichte daraufhin ein vehementes Plädoyer für den verstorbenen Papst aus dem Jahr 2005. Tornielli sprach die Leser direkt an, verglich Johannes Paul II. mit einem bekannten und respektierten verstorbenen Verwandten und stellte die Frage, wie man sich fühlen würde, wenn im Fernsehen Vorwürfe gegen den eigenen "Vater oder Großvater" erhoben würden, nachts auszugehen und mit einigen "Spielkameraden" minderjährige Mädchen zu belästigen.
Auch Papst Franziskus reagierte prompt. Die Schlussfolgerungen seien "beleidigend und unbegründet", sagte Franziskus am Sonntag der Barmherzigkeit nach dem Regina Coeli auf dem Petersplatz in Rom: "Da ich die Gefühle der Gläubigen in der ganzen Welt zu deuten weiß, richte ich einen dankbaren Gedanken an das Andenken des heiligen Johannes Paul II, der in diesen Tagen Gegenstand von beleidigenden und unbegründeten Schlussfolgerungen ist."
Äußerst fragwürdige Heiligsprechung
Obwohl schwerste Vorwürfe im Raum stehen, erdrückende Beweise vorliegen und unzählige Ungereimtheiten ungeklärt sind, wurde Johannes Paul II. am 1. Mai 2011 von Benedikt XVI. selig und am 27. April 2014 von Franziskus heiliggesprochen.
Es sei der starke Wunsch des Papstes vorbehaltlos Klarheit zu schaffen und nichts zu verschweigen. Wie will Papst Franziskus den treuen Anhängern von Papst Johannes Paul II. erklären, dass dieser, falls er für schuldig befunden wird, mit dem Teufel kooperierte, obwohl er von ihm heiliggesprochen wurde?
Mit der Heiligsprechung von Johannes Paul II. hat Papst Franziskus die Ermittlungen bereits vom Heiligen Stuhl abgelenkt und der Welt unmissverständlich mitgeteilt, dass Johannes Paul II. von der Untersuchung ausgeschlossen ist. Die Tatsache, dass Papst Johannes Paul II. überhaupt so schnell heiliggesprochen werden konnte, ist auf seine eigene Initiative zurückzuführen. Während seiner Amtszeit hat er 1338 Seligsprechungen und 482 Heiligsprechungen vorgenommen. Die Zahl aller von seinen Vorgängern in den letzten 400 Jahren insgesamt heiliggesprochenen Personen ist nur etwa halb so hoch. 1983 hatte Johannes Paul II. den traditionellen Zeitraum zwischen Tod und Eröffnung des Heiligsprechungsverfahrens von 50 auf 5 Jahre herabgesetzt.
Dass Franziskus weder die Kirche erneuern wird, noch das Verbrechen an Emanuela Orlandi und ihrer Familie aufklären will, hat er schon während seiner Inthronisation zum Papst in aller Deutlichkeit bewiesen. Was ihn entlarvt, ist seine Beziehung zu Kardinal Sodano. Nach dem Rücktritt von Kardinalstaatssekretär Agostino Casaroli (er führte die bis heute geheime Verhandlung mit den Entführern von Emanuela Orlandi) wurde Erzbischof Sodano zum Kardinalstaatssekretär ernannt. Benedikt XVI. bestätigte Sodano nach seiner Wahl zum Papst im Amt als Kardinalstaatssekretär. Gleichzeitig wurde Sodano von den Kardinalbischöfen als Nachfolger Kardinal Ratzingers zum neuen Kardinaldekan gewählt. Es war das erste Mal seit 1828, dass eine Person gleichzeitig das Amt des Kardinalstaatssekretärs und des Kardinaldekans bekleidete.
1977 trat Sodano sein Amt als Apostolischer Nuntius in Chile an, während des Militärregimes von Augusto Pinochet. Sodano wurde vorgeworfen, gegenüber den Menschenrechtsverletzungen des Regimes geschwiegen und sogar die Militärdiktatur gelobt zu haben. In einer Ansprache sagte er: "Auch Meisterwerke können kleine Fehler haben; ich möchte Ihnen raten, sich nicht bei den Fehlern des Gemäldes aufzuhalten, sondern sich auf den wunderbaren Gesamteindruck zu konzentrieren." 1987 forderten deshalb sieben katholische Priester in einem Brief an Rom Sodanos Abberufung aus Chile.
Im Oktober 1998 wurde Pinochet in Großbritannien aufgrund eines spanischen Haftbefehls festgenommen und verbrachte eineinhalb Jahre in Haft. Die Regierung Blair musste entscheiden, ob sie einem Auslieferungsantrag Spaniens stattgeben wollte. Im Februar 2000 äußerte sich Sodano, nun in seiner Funktion als Staatssekretär des Vatikans, zu dieser Frage und empfahl, dass Pinochet nach Chile zurückkehren solle, da dieser Fall den chilenischen Staat betreffe und Chile das Heimatland Pinochets sei.
Im Jahr 2010 beschuldigte Kardinal Schönborn Sodano, die Einsetzung einer Untersuchungskommission zur Affäre um Hans Hermann Groër verhindert zu haben und behauptete, dass es eine "Vertuschungsfraktion" um Sodano gebe. Der ehemalige Kardinal Hans Hermann Groër wurde 1995 von ehemaligen Schülern des Knabenseminars Hollabrunn des sexuellen Missbrauchs beschuldigt. Nachdem weitere Vorwürfe aufgekommen waren, trat er als Vorsitzender der Bischofskonferenz zurück und wurde von Christoph Schönborn als Koadjutor-Erzbischof ersetzt. Im Juni 1995 sammelten mehr als 500.000 Menschen Unterschriften für eine grundlegende Erneuerung der Kirche Jesu und eine Reihe von Reformmaßnahmen. Groër bat im Oktober 1994 aus Altersgründen um Rücktritt, der Papst nahm diesen im August 1995 an.
Im Jahr 1996 übertrug man ihm wieder ein kirchliches Amt, das er jedoch aufgeben musste, nachdem ihm 1998 erneut homosexuelle Übergriffe auf volljährige Mönche vorgeworfen wurden. Nach einer außerordentlichen Visitation im Stift Göttweig erklärten mehrere Bischöfe, dass die Vorwürfe im Wesentlichen zutreffen würden. Groër zog sich danach zurück und bat im April 1998 um Vergebung. Der ehemalige Kardinalstaatssekretär Angelo Sodano wurde beschuldigt, die Bildung einer Untersuchungskommission zur Groër-Affäre verhindert zu haben.
Nach diesen Vorwürfen wurde Schönborn von Benedikt XVI. nach Rom zitiert, wo er sich öffentlich bei Sodano entschuldigen musste. Zur Ostermesse 2010 äußerte sich Sodano solidarisch mit Papst Benedikt XVI. Er erklärte: „Heiliger Vater, das Volk Gottes ist mit dir und wird sich nicht vom ‚Geschwätz des Augenblicks‘ beeinflussen lassen.“ In der Presse wurden Sodanos Formulierungen als „Verharmlosung klerikalen Missbrauchs“ gewertet. Sodano hatte auch andere Serientäter wie Kardinal Theodore McCarrick in den Vereinigten Staaten und Bischof Juan Barros Madrid in Chile geschützt.
Es war eben dieser Sodano, welcher bei der Amtseinführung zum Papst, Franziskus den Fischerring überreichte. Trotz all dieser Vorkommnisse stand Papst Franziskus Sodano treu zur Seite und hielt seine schützende Hand über ihn - bis zu seinem Tod am 27. Mai 2022 in Rom.
Eine Blaupause des Verbrechens
Alle Spuren führen in den Vatikan und alle führen sie zu diesen 5 Männern.
Gemäß Minardi habe De Pedis im Jahr 1983 im Auftrag von Erzbischof Marcinkus die damals 15-jährige Emanuela Orlandi entführt, um jemandem eine Nachricht zu übermitteln. De Pedis habe ihr gesagt, dass die Entführung Teil eines "Machtspiels" sei und im Gegenzug für die Hilfe des Erzbischofs beim Geldwäscheverfahren durchgeführt wurde. „Wenn sie die Lösung im Fall Emanuela Orlandi suchen, sehen sie nach, wer in der Krypta der Basilika von SantÀpollinare bestattet liegt – und welchen Gefallen Renatino damals Kardinal Poletti getan hat.“
Wenn das Dokument mit der Kostenabrechnung, das im Zusammenhang mit den Vatileaks veröffentlicht wurde, authentisch ist, kann man daraus schließen, dass Emanuela Orlandi bis zum Jahr 1997 unter der Obhut des Vatikans in London lebte. Es stellt sich die Frage, warum eine Geisel am Leben gelassen und nicht entlassen wird. Normalerweise besteht der Zweck einer Geiselnahme darin, eine Person zu zwingen, eine bestimmte Handlung auszuführen.
Im Fall von Emanuela Orlandi scheint es jedoch genau umgekehrt gewesen zu sein. Sie diente als Versicherungspolice, um jemanden innerhalb des Vatikans von einer bestimmten Handlung abzuhalten. 1997 starb Ugo Poletti und vermutlich wurde im selben Jahr Emanuelas Leichnam in den Vatikan überführt. Kurze Zeit später werden der neu ernannte Kommandant, seine Frau und der Vize-Korporal Cédric Tornay hingerichtet – die zeitliche Nähe all dieser Ereignisse war kein Zufall. Vieles deutet auf eine hierarchische Struktur innerhalb der Beteiligten und Mitwisser hin, in der Ugo Poletti eine Schlüsselrolle zukam.
1997 war ein Jahr der politischen Umbrüche in Italien. Die Mitte-links-Regierung unter Ministerpräsident Romano Prodi, die aus einer Koalition mehrerer Parteien bestand, hatte im Jahr zuvor die Wahlen gewonnen. Allerdings war die Regierungskoalition von internen Spannungen geprägt, was zu zahlreichen politischen Krisen führte. Im Mai 1997 trat Ministerpräsident Prodi nach einem Vertrauensverlust im Parlament zurück. Danach bildete der ehemalige Kommunist Massimo D'Alema eine neue Mitte-links-Regierung. D'Alema wurde der erste ehemalige Kommunist, der das Amt des Ministerpräsidenten in Italien innehatte.
Wenn wir davon ausgehen, dass Emanuela Orlandi als eine Art Druckmittel verwendet wurde, um jemanden von einer Handlung abzuhalten, dann könnte der Tod von Ugo Poletti und die Ernennung von Massimo D'Alema zum Premierminister die Machtstruktur innerhalb der Beteiligten und Mitwisser verschoben haben. Möglicherweise fühlten sich einige Personen durch die neuen politischen Verhältnisse bedroht oder gefährdet. Infolgedessen wurden Zeugen dieses Verbrechens aus der Welt geschafft.
Emanuela wurde in einem internen Machtkampf als Schachfigur benutzt. Nicht die Mafia hat den Vatikan erpresst – vielmehr wurde sie instrumentalisiert, um eine Partei im Vatikan unter Druck zu setzen. Innerhalb des Vatikans tobt ein Krieg um die Macht, bei dem offenbar keinerlei moralische Grenzen existieren. Man ist bereit, dem Teufel höchstpersönlich die Hand zu reichen, über Leichen zu gehen, unschuldige Kinder von loyalen Mitarbeitern zu entführen und die ganze Welt mit Lügen zu manipulieren.
Das Schicksal von Emanuela Orlandi bietet dem Vatikan eine einzigartige Chance, seine Schattenseiten aufzudecken. Auch wenn die Wahrheit schmerzhaft sein mag, können nur diejenigen Sünden vergeben werden, die auch benannt werden. Der Heilige Stuhl hat bereits zu viel Vertrauen verspielt. Ohne Wahrheit kann es keinen Frieden geben.
In den Tiefen des Schicksalsgeflechts erhebt sich eine Familie von unbeugsamem Mut, deren Streben nach Gerechtigkeit selbst den Himmel erbeben lässt. Wie ein kraftvoller Ruf, der die Herzen der Verzweifelten erhellt, kämpfen sie unermüdlich und werden zur Inspiration für die ganze Welt. Ihre Entschlossenheit ist ein unerschütterlicher Fels inmitten stürmischer Zeiten. Diese Familie ist ein Bollwerk der Tapferkeit und verdient unsere tiefste Bewunderung und Ehrerbietung.
Jack Kabey